Der “Mohr” – zur Problematik eines historischen Begriffs

Andere Zeiten, andere sprachliche Sitten – das gilt auch für Black History. Historische Begriffe wie „Kammermohr“ und „Hofmohr“ sind zunächst einmal sprachliche Kinder ihrer Zeit. Im 18. Jahrhundert sind sie in etwa so gebräuchlich wie „Beutetürke“ oder „Hoftürke“ für Gefangengenommene aus den Türkenkriegen. “Hoftürken” trugen ähnlich wie “Hofmohren” in europäischen Fürstenhäusern als Diener zum damals modischen exotischen Sujet bei. Keine dieser Bezeichnungen ist wertneutral.

Wenn nun hier in Beiträgen zur Black History afrikanischstämmige Kammerdiener oder Hofbeschäftigte in einer bestimmten Zeit behandelt werden, kommt man schlecht drum herum, die damals gängigen Bezeichnungen zu verwenden. Im Sinne der kritischen Betrachtung des Untersuchungsgegenstandes erscheint es aber zwingend notwendig, sich die Herkunft dieser Begriffe bewusst zu machen. Dazu deshalb einige Bemerkungen in einem Begriffsexkurs zu der Black-History-Artikelserie dieses Blogs.

Herkunft des Begriffs

Der Begriff „Mohr“ leitet sich etymologisch vom griechischen „moros“ und dem lateinischen „maurus“ ab, aus dem im Althochdeutschen schließlich „mor“ und später „Mohr“ entstanden ist. Das lateinische „maurus“ steht zunächst für die Herkunft aus Mauretanien, später für „schwarz“, „dunkel“ und „afrikanisch“, das griechische „moros“ aus dem sich das lateinische “maurus” ableitet ebenfalls zunächst auf Mauretanien beziehend, später u.a. für „töricht“ und „dumm“. Der Begriff „Mohr“ ist daher vom Ursprung her eine Bezeichnung für eine aus einem bestimmten geografischen Zusammenhang stammende Gruppe, später jedoch zunehmend sowohl eine Beschreibung für dunkelhäutige Menschen, im weiteren Verlauf die für eine imaginierte Rasse. Eine Menschengruppe wird auf ihre Hautfarbe reduziert, bewertet und herabgewürdigt. Deshalb steht der Begriff im zeitlichen Zusammenhang des 18. Jahrhunderts nicht einfach für einen Schwarzen Diener, sondern für einen unterwürfigen, versklavten afrikanischen Hoflakaien.

Bedeutung im historischen Kontext

Betrachten wir nochmals näher die in der Blogartikelserie bisher beschriebenen Lakaien afrikanischer Herkunft. Hier ergibt sich ein durchaus ambivalentes Bild: Einerseits wurden sie durch die Bezeichnung „Kammer-“ oder „Hofmohr“ als unterwürfige, versklavte, afrikanische Diener gekennzeichnet. Der Subtext, der sich aus der aus dem Griechischen stammenden Bedeutung ableitet, deutet auf einen dummen, törichten Diener hin. Das beisst sich andererseits mit der ausgesprochen aufwendigen Ausbildung, die ihnen zuteil wurde. Schließlich sollten Hofmohren doch gerade auch durch ihre Bildung bestechen.

Hinzu kam die Aneignung des afrikanischen Dieners durch die Bestimmung seiner Kleidung, die Ausstaffierung mit einer exotisch-bunten Uniform. Dies symbolisierte eine Inbesitznahme der Person und verdeutlichte ihre Verfügbarkeit. Optisch hatte der “Hofmohr” dadurch zwar innerhalb der Dienerschaft eine hervorgehobene Sonderstellung, war aber zugleich auch abgesondert – Abgrenzung durch Hervorhebung. Die Wahl der Taufnahmen, zumeist in Anlehnung an den Namen des Dienstherren, stellt vor diesem Hintergrund eine weitere Form der Inbesitznahme der Person dar.

Angelo Soliman um 1750

Der Fall Soliman

Nehmen wir z.B. den im vorletzten Beitrag unserer Artikelserie thematisierten Fall des Angelo Soliman. Der zu seinen Lebzeiten aufgrund seiner Haltung und Bildung hoch angesehene und gerühmte Hofmohr Soliman war nach seinem Tode auf Geheiß des Kaisers präpariert und im Kaiserlichen Naturalienkabinett in Wien wie eine Jagdtrophäe ausgestopft worden. Man hatte ihn entkleidet, mit Ketten und Federn ausstaffiert, als „Wilden“ verkleidet und zwischen Tierpräparaten präsentiert.

Dies muss als der postume Versuch der erneuten Inbesitznahme der Person gewertet werden. Dem ehemaligen Sklave Soliman war es zu Lebzeiten gelungen, sich durch Bildung und Leistung aus seiner Position als Kammerdiener herauszuarbeiten. Als Prinzerzieher hatte er es zu einer hochangesehenen Persönlichkeit in Wien gebracht, pflegte mit hochadeligen und gekrönten Häuptern Europas Umgang und war zu guter Letzt von der Freimaurerloge „Zur wahren Eintracht“ in Wien aufgenommen worden.

Was anders als eine Negierung der Leistung zur Lebenszeit war es, wie mit dem Leichnam dieses angesehenen Höflings umgegangen wurde? Was anders als ein postumes Ausstoßen aus der höheren Gesellschaft Wiens war es, Soliman nach seinem Tod in einen „Wilden“ zu verwandeln und neben Tierpräparaten auszustellen? Auf die Emanzipation des lebenden folgte die Inbesitznahme des verstorbenen Soliman.

Aktuelle Auseinandersetzung

Während das „N“-Wort rassistisch ist und dies bereits seit Jahrzehnten auch in der breiten Gesellschaft erkannt wird, ist die Auseinandersetzung um den Begriff „Mohr“ zwar bereits seit Längerem im Gange, hat jedoch noch keinen Abschluss gefunden. Zu sehr wird mit zahlreichen Produkten, die mit dem Namen oder Konterfei eines „Mohren“ werben, etwas Positives verbunden. Zwar wird der Schoko- oder Schaumkuss schon längst nicht mehr „Negerkuss“ oder „Mohrenkopf“ genannt, doch fanden und finden sich noch zahlreiche “Mohren”-Abbildungen auf Produktverpackungen – so etwa der „Sarotti-Mohr“ (inzwischen der “Sarotti-Magier”) oder die Logos der Kaffeemarken Machwitz und Julius Meinl.

Dass inzwischen ein Umdenken stattfindet, zeigen Fälle von Umbenennungen. So wurde aus dem Augsburger Hotel „Drei Mohren“ das „Maximilian’s“. Die Berliner Mohrenstraße heißt seit August 2020 Anton-Wilhelm-Amo-Straße. Sicher ist das erst ein Anfang, denn die Auseinandersetzungen an anderer Stelle sind noch in vollem Gange.

 

Illustration aus Wikimedia: 

Angelo Soliman: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Angelo_Soliman.jpg?fbclid=IwAR1qrIKZnrIUb5dxiCs9gjtOXHHHMh3-GRoD9965e8UQuNLQuESIKM44icw

“Hofmohr” und preußischer Militär – zwei afrodeutsche Karrieren

August und Gustav Sabac el Cher

Zwei spannende, bis heute wenig bekannte afrodeutsche Biografien sind die von August Sabac el Cher, dem Leibdiener des preußischen Prinzen Albrecht und die von Augusts Sohn Gustav Sabac el Cher, einem afrodeutschen Militärmusiker der preußischen Armee.

Von Kairo nach Berlin

Beginnen wir mit August Sabac el Cher. Er stammte aus Ägypten, aus dem Gebiet des heutigen Sudan. Sein Vater, ein sudanesischer Scheich, war bei einem Aufstand gegen die Osmanen ums Leben gekommen. Die Mutter hatte daraufhin Suizid begangen. Der verwaiste Sohn wurde nach der Niederschlagung des Aufstandes verschleppt. Muhammad Ali Pascha, der Gouverneur der osmanischen Provinz Ägypten, machte ihn Prinz Albrecht von Preußen bei dessen Besuch in Ägypten im März 1843 zum Geschenk. Das Verschenken von „Mohrenkindern“* als Diener war zur damaligen Zeit durchaus üblich. Ebenso war es gang und gäbe, dass die neuen Herren ihnen einen neuen Namen gaben. Prinz Albrecht wählte für den wohl erst sieben Jahre alten Jungen die einzige arabische Wendung, die ihm bekannt war: Sabac el Cher, was „Guten Morgen“ bedeutet.

Mit Prinz Albrecht gelangte der Junge nach Berlin. Er wurde beim Gesinde des Prinz-Albrecht-Palais untergebracht, wuchs im unmittelbaren Umfeld des preußischen Hofes auf, erhielt Unterricht in deutscher Sprache und christlicher Religion. Ab 1851 war er Kammerdiener und wurde als Lakai einem Offizianten unterstellt. Bei seiner Taufe im April 1852 erhielt er zusätzlich die Vornamen August Albrecht. Im weiteren Verlauf stieg er zum Leibdiener und schließlich zum Silberverwalter von Prinz Albrecht auf, reiste in dessen Gefolge durch Europa und begleitete ihn zu Militäreinsätzen, so u.a. bei einem Einsatz zur Unterstützung der russischen Armee im Kaukasus. Von der russischen Zarin erhielt er eine goldene Taschenuhr, die sich bis heute im Familienbesitz befindet.

1864 nahm August Sabac el Cher im Dienste der preußischen Armee am Deutsch-Dänischen Krieg teil und 1866 an der Schlacht von Königgrätz. Ein Jahr später heiratete er die Tochter eines wohlhabenden Berliner Textilkaufmanns. Sie bezogen eine Wohnung im Prinz-Albrecht-Paials, Wilhelmstraße 102 in Berlin – dem Stadtschloss, in dem siebzig Jahre später das Reichssicherheitshauptamt untergebracht werden sollte.1868 wurde der Sohn Gustav Sabac el Cher geboren. 1870 nahm August auch am Deutsch-Französischen Krieg teil, sechs Jahre später schied er dann aus dem Dienst bei Hofe aus. 1882 erhielt August Sabac el Cher die Naturalisationsurkunde und galt damit rechtlich als preußischer Bürger.

Gustav der Militärmusiker

Sein Sohn Gustav Sabac el Cher machte Karriere als Militärmusiker und Rundfunkdirigent. Mit 17 Jahren trat er in die Kapelle des Brandenburgischen Füsilier-Regiments Nr. 35 und damit in die preußische Armee ein. 1895 wurde er Dirigent beim Grenadier-Regiment „König Friedrich III.“ Nr. 1 in Königsberg, wo er zu einer stadtbekannten Persönlichkeit wurde. 1901 heiratete er die Tochter eines Lehrers. Aus der Ehe gingen die beiden Söhne Horst und Herbert hervor. Trotz seiner Militärmusikerlaufbahn war Gustav Sabac el Cher in mindestens einem Fall direkt mit Rassismus konfrontiert. Dagegen klagte er aber vor Gericht wegen Beleidigung und gewann den Prozess 1908.

Die „Deutsche Zeitung“ hatte im Oktober 1907 in einem Leitartikel die Frage erörtert, ob es angebracht sei, dass in der deutschen Armee Schwarze als Vorgesetzte dienten und diese Frage auch gleich mit einem entschiedenen „Nein“ beantwortet. In einer ebenfalls abgedruckten Stellungnahme des Redakteurs Erich Peterson wurde Sabac el Cher direkt angegriffen, als „Nigger“ bezeichnet, der mit seiner „eigentümlichen Art der Tanzbewegungen“ die deutsche Musik verhunze u.a.m.

Kronprinz von Massow, Kommandeur des Grenadierregiments, sprang Sabac el Cher zur Seite und erwirkte den Abdruck seiner Stellungnahme in der Zeitung. In ihr ergriff er für seinen Musiker Partei. Zugleich ging Sabac el Cher auf dem Weg der Privatklage gegen den Redakteur vor. Redakteur Peterson ruderte zwar in dem Gerichtsverfahren zurück und behauptete, er habe Sabac el Cher keineswegs persönlich angreifen oder beleidigen wollen. Das Urteil wurde 1908 aber zugunsten von Sabac el Cher gesprochen und Redakteur Peterson so wegen Beleidigung zu einer Geldstrafe verurteilt.

Ein Jahr nach dieser Affäre, im Jahre 1909, quittierte Gustav Sabac el Cher den Dienst in der Armee und zog mit seiner Frau und den beiden Söhnen zurück nach Berlin. Er arbeitete fortan als Kapellmeister in verschiedenen Städten. Zur Zeit der Weimarer Republik war er als Dirigent bei einem Rundfunk-Orchester tätig.

Das Ende von Weimar und die Kameraden vom „Stahlhelm“

Ende der 1920er Jahre eröffnete Gustav Sabac el Cher in Königs-Wusterhausen eine gutgehende Gartenwirtschaft. Hier musizierte er häufig gemeinsam mit seinen Söhnen Horst und Herbert. Beide Söhne waren in die Fußstapfen des Vaters getreten, Horst als Pianist und Herbert als Violinist. Gustav war überzeugter Preuße und Offizier, identifizierte sich mit dem wilhelminischen Wertekanon. Regelmäßig waren seine Freunde und Kameraden vom „Stahlhelm“, dem „Bund der Frontsoldaten“ zu Gast. Längst schon hatte sich im Verband der Rassismus breit gemacht. Ob Gustav dies ausgeblendet hat oder noch immer der Korpsgeist seiner ehemaligen Kameraden überwog, ist nicht bekannt. Aber es scheint mindestens bemerkenswert.

Nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten blieben die Gäste aus. Die Geschäfte liefen schlecht, die Gaststätte war nicht mehr zu halten. Ein daraufhin von Gustavs Familie in Berlin eröffnetes Kaffeehaus musste auf Druck der Behörden geschlossen werden. 1934 verstarb Gustav Sabac el Cher. Der im Exil lebende Kaiser Wilhelm II. übersandte ein Beileidstelegramm für den ehemaligen Dirigenten seines Königsberger Regiments.

Gustavs Frau starb ein Jahr später. Von Horst Sabac el Cher ist ein Foto überliefert, das ihn 1935 in der Uniform des Stahlhelms zeigt. Im Zweiten Weltkrieg diente er als Sanitäter bei der Wehrmacht und kam 1943 an der Ostfront um. Sein Bruder Herbert überlebte den Krieg. Der erste Sohn von Herbert Sabac el Cher, unehelich geboren, besuchte eine “Nationalpolitische Erziehungsanstalt”, kurz: “Napola“, eine NS-Eliteschule.

Anmerkung: 

*Die Begriffe “Mohrenkinder”, “Hof-” und “Kammermohr” sind Kinder ihrer Zeit, Fremdzuschreibungen mit negativer Konnotation. Wir widmen ihr in einem späteren Beitrag im Rahmen des BHM2021 einen Exkurs.

Illustrationen aus Wikimedia: 

August Sabac el Cher: https://upload.wikimedia.org/…/August_Sabac_el_Cher…

Gustav Sabac el Cher: https://upload.wikimedia.org/…/e2/Gustav_Sabac_el_Cher.jpg

“Kammer-” oder “Hofmohr”

Adlige und kirchliche Würdenträger, die im 18. und auch noch bis Mitte des 19. Jahrhundert etwas auf sich hielten, zählten zu ihrem Gefolge nicht selten einen afrikanischen Diener. Der „Kammer-” oder „Hofmohr“* war ein exotisches Prestigeobjekt, das nach außen Luxus, Wohlstand, Exklusivität und Weltläufigkeit illustrieren sollte. Der Kammerdiener symbolisierte als exotischer Lakai die weltweiten Fernhandels- und Machtbeziehungen seines Eigentümers. Üblicherweise als Sklave nach Europa verschleppt oder Fürsten von orientalischen Herrschern zum Geschenk gemacht, wurden afrikanische Kinder an europäischen Höfen zu Dienern ausgebildet. Sie waren weiterhin unfrei und an ihren Herren gebunden, erhielten jedoch im Gegenzug üblicherweise eine umfangreiche Bildung und erlernten oft zahlreiche Fremdsprachen. So stiegen die als Sklaven verschleppten, an Fürstenhöfen bestens ausgebildeten afrikanischen Diener nicht selten in höchste Vertrauenspositionen auf.

Kaufmann Heinrich Carl von Schimmelmann (links), König Christian VI. von Dänemark (rechts)

Bekannte Kammermohren waren Angelo Soliman, Ignatius Fortuna oder auch Abraham Petrowitsch Hannibal.

Angelo Soliman

Der aus Nigeria stammende Soliman war nach der Niederlage seines Stammes von den siegreichen afrikanischen Gegnern an europäische Sklavenhändler verkauft und über Umwege auf den alten Kontinent verschleppt worden. Seine Karriere als Kammerdiener begann er 1734 bei dem österreichischen Fürsten Johann Georg Christian von Lobkowitz. 1773 brachte er es schließlich zum Prinzerzieher bei Fürst Franz Josef von Liechtenstein. Soliman war als der „hochfürstliche Mohr“ und „Cammerdiener“ des Fürsten von Liechtenstein der wohl berühmteste Hofmohr Wiens und begleitete seinen Fürsten zu Audienzen und auf Feldzügen. Wie die meisten seiner afrikanischen Kollegen hatte er eine umfassende Bildung erhalten und sprach neben seiner Muttersprache auch Deutsch, Italienisch, Französisch, Englisch, Latein und Tschechisch. Er war durch sein angenehmes Auftreten bekannt und führte fast freundschaftliche Beziehungen zum Sohn Kaiser Josephs II. Dies hinderte diesen jedoch nicht dran, Soliman nach seinem Tod auf Wunsch des Kaisers präpariert und ausgestopft** im Naturalienkabinett zur Schau zu stellen.

Ignatius Fortuna

Ignatius Fortuna wurde vermutlich in Surinam geboren und war als Kind von einem Kaufmann aus Essen in das dortige Reichsstift gebracht worden. Dort wurde er christlich erzogen, getauft und an den geistlichen Landesherrn übergeben. Über Umwege  landete er schließlich bei der Essener Fürstäbtissin Franziska Christine von Pfalz-Sulzbach, wo er in eine Vertrauensstellung aufstieg (vgl. dazu die Illustration zu Beginn des vorangegangenen Blogbeitrags).

Abraham Petrowitsch Hannibal

Wie bei Ignatius Fortuna ist auch die Herkunft von Abraham Petrowitsch Hannibal nicht eindeutig belegt. Die Quellen nennen abweichend Eritrea und Kamerun als Herkunftsort. Anfang des 18. Jahrhunderts war er als Junge vom russischen Gesandten Graf Tolstoi  in Konstantinopel gekauft, später in den Dienst des russischen Zaren Peter I. getreten und begleitete diesen auf allen seinen Feldzügen. Auch Abraham wurde eine umfängliche Ausbildung ermöglicht. Mit zweiundzwanzig Jahren schickte man ihn nach Paris. Dort trat er in den Dienst der französischen Armee ein und wurde im Feldzug gegen Spanien im Jahre 1720 zum Leutnant befördert. Ferner besuchte er die Pariser Ingenieursschule und verließ sie im Rang eines Kapitäns. Schließlich kehrte er nach Russland zurück und diente als Leutnant in einem von Zar Peter I. befehligten Artillerieregiment. Er starb schließlich als Großgrundbesitzer in Russland.

Mensch und Objekt – die ambivalente Stellung der “Hofmohren”

Die nach Europa Verschleppten wie Angelo Soliman und Ignatius Fortuna wurden christlich getauft und erhielten von ihren Herren neue Familien- und Rufnamen. Nur diese sind üblicherweise überliefert. Ob die Betroffenen, die oft schon im Kindesalter verschleppt worden sind, um ihre ursprünglichen Namen wussten, ist nicht bekannt. Auch im Einzelfall lassen sich die Namen aus der afrikanischen Heimat nur schwer ermitteln. Sinn und Zweck mag mit Sicherheit gewesen sein, den afrikanischen Diener nach Gutdünken nicht nur mit prächtig-bunter Uniform auszustaffieren, um dem Wunsch nach Exotik zu entsprechen, sondern ihn sich über den neuen Namen zusätzlich zu Eigen zu machen. Für die Betroffenen bedeutete dies, dass die Brücken in die alte Heimat, und sei es auch nur die Verbindung über den Namen, abgebrochen wurde. Dieser Bruch wirkt bis heute nach. So zeigt sich in der Befassung mit dem Thema die Schwierigkeit, nicht nur den ursprünglichen Namen, sondern in manchen Fällen auch die tatsächliche Herkunftsregion des Einzelnen zu ermitteln.

Der Fall von Angelo Soliman steht stellvertretend für die ambivalente Haltung gegenüber den “Hofmohren”. Soliman war hoch gebildet, allgemein geachtet, gern gesehen im Umgang mit den gekrönten Häuptern und Fürsten Europas – doch hinderte dies den Kaiser in Wien nicht daran, ihn nach seinem Tode präparieren und ausstopfen zu lassen, um ihn im kaiserlichen Naturalienkabinett, halbnackt, mit Federn und Muschelketten geschmückt zwischen Tierpräparaten auszustellen. Auf der einen Seite war Soliman der kultivierte, gebildete Diener, der sich in den höchsten gesellschaftlichen Kreisen bewegte. Auf der anderen Seite wurde er nach seinem Tod präpariert und ausgestopft wie eine Jagdtrophäe in einer seiner Person nicht entsprechenden Verkleidung als unzivilisierter Wilder – die Rückverwandlung eines Menschen zum Objekt, als das er nach Europa verschleppt worden war. Trotz der Proteste seiner Angehörigen, die ein christliches Begräbnis für Soliman forderten, wurde sein präparierter Leichnam weiter im Naturalienkabinett belassen.

Anmerkung:

*Die Begriffe “Hof-” und “Kammermohr” sind Kinder ihrer Zeit, Fremdzuschreibungen mit negativer Konnotation. Wir widmen ihr in einem späteren Beitrag im Rahmen des BHM2021 einen Exkurs.

**Der schockierende Begriff “ausgestopft” wurde bewusst verwendet, da er der Behandlung des Leichnams nach Art einer Tierpräparation entspricht und so den menschenunwürdigen Umgang sprachlich verdeutlicht.

Illustrationen aus Wikimedia:

https://de.wikipedia.org/wiki/Diener#/media/Datei:Heinrich_Carl_Schimmelmann_1773.jpg

https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/2/2b/Christian_VI_med_tjener.jpg

Afrodeutsche Geschichte – verdrängt und ausgeblendet

Die Geschichte Schwarzer Menschen in Deutschland und Europa ist zum Gutteil noch immer geprägt von der Kolonialgeschichte. Dabei hat die Perspektive in Deutschland eine Besonderheit nämlich die vergleichsweise kurze Kolonialgeschichte. Damit einher geht fast zwangsläufig die Wahrnehmung, dass Kolonialgeschichte und in diesem Zusammenhang nach Deutschland migrierte Afrikaner allein zahlenmäßig gar nicht so relevant gewesen seien und ihre Präsenz keinen nachhaltigen Einfluss auf die deutsche Gesellschaft gehabt haben könne. Eine kleine, kaum sichtbare Minderheit also.

“Kammermohr” Ignatius Fortuna mit Fürstin Franziska Christine von Pfalz-Sulzbach

Seit Jahrhunderten in Deutschland

Tatsächlich lebten Afrikaner und Afrodeutsche aber seit hunderten von Jahren in Deutschland und nicht erst seit Errichtung der deutschen Kolonien in Afrika 1884. Afrikaner gelangten Anfang des 18. Jahrhunderts als „Kammer-„ oder „Hofmohren“*

an die europäischen Fürstenhöfe. Prächtig ausstaffiert und umfassend gebildet dienten Kammermohren Herrschern, kirchlichen Würdenträgern und wohlhabenden Kaufleuten als exotisches Statussymbol. Da wäre Anton Wilhelm Amo (geb. ca. 1703, verst. Nach 1753) aus Ghana. Als Kind versklavt, von der Niederländisch-Westindischen Gesellschaft nach Amsterdam verschleppt und an Herzog Anton Ulrich von Braunschweig und Lüneburg-Wolfenbüttel verschenkt. Amo machte zunächst „Karriere“ als sogenannter „Kammermohr“, erhielt eine umfassende humanistische Ausbildung, studierte in Halle und Wittenberg Philosophie und Rechtswissenschaft, promovierte schließlich 1734 in Wittenberg und lehrte in Wittenberg und Jena.

Aus den Kolonien

Mit der Errichtung deutscher Kolonien kamen jedoch zum ersten Mal AfrikanerInnen in größerer Zahl nach Deutschland. Durch den Ausbau der Kolonialherrschaft entstand ein erhöhter Bedarf an Fachkräften für Verwaltung und Wirtschaft und so gelangten zahlreiche junge AfrikanerInnen zur Ausbildung nach Deutschland, besuchten deutsche

Askari, Deutsch-Ostafrika, beim Übungsschießen, ca. 1914-1918

Schulen, studierten an deutschen Universitäten, oder wurden an Missions- und Kolonialschulen ausgebildet als Handwerker, Facharbeiter oder Missionslehrer zum Einsatz in den deutschen Kolonien. Einige waren als Köche, Stewards oder Heizer der deutschen Schifffahrtslinie tätig, die zwischen Deutschland und den Kolonien verkehrte, arbeiteten als Sprachgehilfen, gelangten als ehemalige Angehörige der deutschen Schutztruppen nach Deutschland oder wurden als afrikanische Hausangestellte von Kaufleuten oder Afrikareisenden mitgebracht.

Völkerschauen

Schon vor Errichtung der deutschen Kolonien gelangten Afrikaner über die bereits bestehenden Handelskontakte nach Deutschland, andere wurden als lebende „Ausstellungsstücke“ im Rahmen der seit 1874 u.a. von Carl Hagenbeck organisierten „Völkerschauen“ präsentiert. So gelangte auch Martin Dibobe nach Deutschland. Der Sohn eines Häuptlings der Duálá war 1896 als einer von hundert Afrikanern aus den deutschen Kolonien nach Europa gebracht worden, um sechs Monate lang im Rahmen einer Völkerschau der Berliner Gewerbeausstellung im Treptower Park in dem Nachbau eines afrikanischen Dorfes „afrikanisches Alltagsleben“ darzustellen, bzw. das, was sich die Deutschen unter afrikanischem Alltagsleben vorstellten. Nach Ende der Ausstellung blieb Dibobe in Deutschland, machte eine Ausbildung und landete zunächst als Zugführer, schließlich als Fahrer bei der Berliner U-Bahn.

Andere kamen nur für einige Jahre nach Deutschland, zur Ausbildung, oder um einige Zeit im Land zu arbeiten. Mdachi bin Scharifu reiste 1913 aus der damaligen Kolonie Deutsch-Ostafrika (heute Tansania) nach Berlin und arbeitete als Sprachlektor am Seminar für Orientalische Sprachen an der Friedrich-Wilhelms-Universität. Er kehrte 1920 nach Ostafrika zurück.

Gustav Sabac el Cher, der Nachfahre eines „Hofmohren“, war in Berlin aufgewachsen, machte in der Kaiserzeit Karriere als Militärmusiker bei der Preußischen Armee und später als Dirigent beim Rundfunk. Seine Söhne dienten im Zweiten Weltkrieg in der Wehrmacht, ein Enkel landete in einer Napola, einem als NS-Kaderschmiede ausgelegten Internat.

Bayume Mohamed Husen, war als ehemaliger afrikanisch-deutscher Askari 1929 nach Deutschland gelangt. Hier gründete er eine Familie, arbeitete als Kellner, Sprachlektor und Schauspieler. Im August 1941 verhaftete ihn die Gestapo wegen des Vorwurfs der „Rassenschande“. Er wurde in das Konzentrationslager Sachsenhausen verbracht, wo er drei Jahre später starb. Insgesamt wird die Zahl der in Konzentrationslagern ermordeten Menschen afrikanischer Herkunft auf 2.000 geschätzt. Nicht einberechnet sind dabei die in den Kriegsgefangenenlagern inhaftierten Black Americans und afrikanischen Soldaten der französischen, belgischen und britischen Truppen.

Gemiedenes Thema

Noch immer wird afrodeutsche Geschichte in der breiten Öffentlichkeit unzureichend wahrgenommen. Sie wird zumeist auf die Kolonialzeit beschränkt, die ihrerseits kaum aufgearbeitet ist. Die Zeit des Nationalsozialismus wird oft komplett ausgeblendet. Afrodeutsches Leben wird aufgrund des insbesondere in dieser Zeit herrschenden und vom NS-Regime gesteuerten, geförderten oder protegierten Rassismus schlichtweg für unmöglich gehalten. Erst allmählich tasten sich Medien und Gesellschaft an die Thematik heran, wie die lokalen Auseinandersetzungen (bzw. der Versuch ihrer Vermeidung) zu Straßennamen mit kolonialer Vergangenheit nur all zu deutlich illustrieren. Allein der Umbenennung der Berliner „Mohrenstraße“ in „Anton-Wilhelm-Amo-Straße“ im August 2020 ging eine jahrelange Auseinandersetzung voraus. Die Änderung des Namens “Mohrenstraße” bei der am Ort befindlichen U-Bahn-Haltestelle hingegen scheiterte.

Anmerkung: 

*Die Begriffe “Hof-” und “Kammermohr” sind Kinder ihrer Zeit, Fremdzuschreibungen mit negativer Konnotation. Wir widmen ihr in einem späteren Beitrag im Rahmen des BHM2021 einen Exkurs.

Quellenangaben zu den llustrationen:

“Kammermohr”: https://de.wikipedia.org/wiki/Kammermohr#/media/Datei:Francisca_Christina_of_the_Palatinate-Sulzbach._Princess-Abbess_of_Essen_and_Thorn.jpg

Askari: https://en.wikipedia.org/wiki/Askari#/media/File:Bundesarchiv_Bild_105-DOA3049,_Deutsch-Ostafrika,_Askari_beim_Übungsschießen.jpg

Gustav Sabac el Cher: https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Datei:Gustav_Sabac_el_Cher.jpg&filetimestamp=20160217161640&

Stolperstein: https://de.wikipedia.org/wiki/Bayume_Mohamed_Husen#/media/Datei:Stolperstein_Brunnenstr_193_(Mitte)_Bayume_Mohamed_Husen.jpg

Black History Month

Der „Black History Month“ wird alljährlich im Februar insbesondere in Kanada und den USA begangen. Er geht auf den Historiker Carter G. Woodson zurück. Die von ihm mitbegründete „Association for the Study of Negro Life and History“ (ASNLH) widmete 1926 erstmals die zweite Februarwoche der Geschichte der Black Americans. Ziel und Zweck war es, die breite Öffentlichkeit auf den Beitrag von Afroamerikanern zur Geschichte Amerikas aufmerksam zu machen.

Seit der Ermordung von Abraham Lincoln hatte die Black Community ohnehin bereits jedes Jahr im Februar den Geburtstag des US-Präsidenten gefeiert, der die Abschaffung der Sklaverei in den USA initiiert hatte. Was lag also näher, als die Woche zur Geschichte der Black Americans in diese Zeit zu legen? Zumal eine weitere Schlüsselfigur der Emanzipation der Black Americans, der Bürgerrechtler Frederick Douglass, ebenfalls in derselben Woche Geburtstag hatte. Seit 1926 wurde die Woche ausdrücklich der Geschichte und Traditionen der Black Americans gewidmet.

Die Idee wurde von Schulen und Gemeinschaften im ganzen Land aufgegriffen, die in ihren Gemeinden Geschichtsvereine gründeten und Veranstaltungen zum Thema initiierten. In den Folgejahren wurden in Städten im ganzen Land jeweils im Februar Veranstaltungen durchgeführt. Seit 1976 wird der Monat Februar als „Black History Month“ landesweit begangen.

Inzwischen wird der Monat in vielen Staaten der Erde zum Anlass genommen für Themenreihen, Veranstaltungen, Schwerpunktsendungen, Ausstellungen und vieles mehr – so etwa in Kanada und im Vereinigten Königreich.

created by Stephan A. Glienke

In Deutschland wird der Black History Month erst seit den 1990er Jahren von der Black Community gefeiert. Auch hier war und ist es das Ziel, Black History ein Gesicht zu geben. Dabei geht es u.a. darum, die Errungenschaften afrodeutscher Persönlichkeiten bekannt zu machen. Von Beginn an engagierten sich Kulturschaffende und Menschen aus dem Bildungsbereich, Dichter:Innen, Autor:Innen und Aktivist:Innen.

Erst in den vergangenen Jahren erhielt die deutsche Kolonialgeschichte auch in der breiten Öffentlichkeit zunehmend Aufmerksamkeit. Die Geschichten wie die der Familie des Schauspielers Theodor Wonja Michael zeigen jedoch deutlich, dass entgegen landläufiger Meinung, afrodeutsches Leben in Deutschland keine Sache der jüngeren Vergangenheit und Gegenwart ist; sie lässt sich nicht einmal auf die Phase der deutschen Kolonialgeschichte beschränken. Afrodeutsches Leben in Deutschland hat eine über mehrere Jahrhunderte zurückreichende Geschichte. Das zeigen Familiengeschichten wie die von Anton Wilhelm Amo, der Familie Sabac el Cher, von Martin Dibobe oder eben von Theodor Wonja Michael.

Der Black History Month soll diese Geschichte und den Beitrag der Afrodeutschen zur Geschichte in Deutschland stärker ins Licht rücken, Bewusstsein schaffen und nicht zuletzt das Thema so etablieren, dass die Beschäftigung nicht nur zeitlich auf den Monat Februar beschränkt bleibt. Weitere Texte zu diesem Thema hier im Blog sollen dazu einen kleinen Beitrag liefern.

#blackhistorymonth2021 #blackhistorymonth #blackhistory #bhm #africanhistory

 

Dirk Ippen zum Achtzigsten – Wie wird man in einem Leben so unverschämt reich?

Großverleger Dirk Ippen ist heute 80 geworden
Eine kritische Würdigung

Sie kennen Dirk Ippen nicht? Dann wird es Zeit. Immerhin hat der umtriebige Großverleger im Laufe seines Lebens nicht nur ein Vermögen von wenigstens 500 Millionen Euro, sondern auch rund 100 Zeitungstitel zusammengerafft. Und so gehört ihm bzw. seiner Ippen-Gruppe mit einiger Wahrscheinlichkeit auch ihre regionale Tageszeitung und – wenn, dann richtig – auch der führende Anzeigenblattverlag in ihrer Gegend. Sollten sie dieser Tage also auf eine peinlich-unterwürfige Würdigung des alten Herrn stoßen, sehen sie es dem Schreiber nach. Er ist jung und braucht das Geld.

Ich selbst will Dirk Ippen gerecht werden – gerade um ihn zum Ende hin hart kritisieren zu dürfen. Und tatsächlich haben Dirk Ippen und sein Lebenswerk zum Achzigsten eine kritische Würdigung verdient. Wer also ist Dirk Ippen? Wie wird man als Jurist in einem Leben eigentlich so unverschämt reich? Hat er dabei wenigstens Gutes gestiftet? Und welche Auswirkungen hat sein verlegerisches Wirken auf unser Gemeinwohl?

Zur Promotion den ersten Verlag
Interessante Einblicke in sein Leben gewährt Dirk Ippen in seiner Autobiografie “Mein Leben mit Zeitungen”(2019): Dirk Ippen wurde mitten ins Verlagsgeschäft hineingeboren, geprägt vom promovierten Vater Rolf Ippen, Mit-Herausgeber und Geschäftsführer der WAZ-Gruppe von 1949-1963. Der junge Dirk studiert Jura in Freiburg, macht Praktika bei Banken und Verlagen und promoviert 1967 über die damals neue Rechtsform der “Einheitsgesellschaft GmbH & Co.KG”. Vermutlich um den Junior im Verlagsgeschäft zu halten, oder auch nur zum Üben, kauft Rolf Ippen vierzig Prozent Anteile des Westfälischen Anzeigers, einer Tageszeitung mit einer Auflage von 36.000 Exemplaren. Dirk Ippen wird Geschäftsführer “seines” ersten Verlages. “Gleichwohl haderte ich mit meinem Schicksal, mich mit 26 Jahren für (…) ein Leben  als Drucker und Verleger von Lokalzeitungen in Hamm entscheiden zu sollen.”

Es kommt anders. Anfang 1968 stirbt der Vater, die Hochzeitsreise in die USA wird im Sommer nachgeholt. Zuerst nach Boston, dann nach Decatur in Illinois geht die Reise, “noch mehr tiefste Provinz als Hamm.” Der dortige Lokalverleger, wie Ippen in Hamm ohne Wachstumsperspektive, hatte nach und nach benachbarte Heimatzeitungen aufgekauft und dabei eine wachsende Zeitungskette gebildet. Ippen darf das Verlagshaus “studieren”, versteht, wie hier Know-how zentral gebündelt und wie ein Filialsystem in die Fläche wieder ausgerollt wird. “Bis zu 100 selbständige Lokalzeitungen unter einheitlichem Management” – the dream was born. Vorortblätter (Suburban Newspapers), das erkennt er in den USA, haben einen entscheidenden Vorteil gegenüber den in der City erscheinenden Zeitungen: “Im Anzeigenverkauf kassiert man doppelt. Einmal von den örtlichen Gewerbetreibenden und dann von den Einzelhändlern” im Oberzentrum.

Den “Marshallstab im Tornister” 
Zurück in Deutschland dreht Dirk Ippen auf, wie man heute sagt. Im Bewusstsein “den Marshallstab im Tornister” zu haben (Ippen über Ippen) – und in den USA in den verlegerischen Durchblicksstrudel geraten zu sein – trimmt er seine Hammer Verlagszentrale auf Effizienz und Ertrag, denn Expansion braucht Eigenkapital. Der Kasseler Verleger Wilhelm Batz, ein Studienkollege des Vaters, verschafft ihm “einen Aktenordner mit den Handelsregister-Eintragungen von sämtlichen deutschen Zeitungsverlagen”. Auch sein Beuteschema bekennt Ippen in seiner Autobiografie offen: Er sucht nach ertragsschwachen Verlagen mit mehreren Gesellschaftern, möglichst in fortgeschrittenem Alter und aus “verschiedenen Familienstämmen”. Hier wittert Dirk Ippen die Chance, sich strategisch einkaufen zu können.

Teilen und wachsen bei Bremen
Es klappt. Ippen kauft sich in Syke südlich von Bremen in die eigentlich bedeutungslose Kreiszeitung ein – und fusioniert binnen weniger Jahre gleich acht ehemals selbständige Kreisblätter unter seiner Regie. “Teilen und wachsen vor den Toren Bremens” überschreibt Ippen den von ihm “moderierten Prozess” und beweist zugleich, dass sich sein Geschäftsmodell tatsächlich “ausrollen” lässt.

Bereits 1974 kauft Ippen von Peter Udo Blintz eine maßgebliche Beteiligung an der Offenbach Post, revolutioniert die technische Produktion und schröpft von nun an das Rhein-Main-Gebiet. “Die Anzeigenentwicklung in diesen Boomjahren im prosperierenden Stadt- und Landkreis Offenbach war phänomenal.” Die Kriegskasse wächst, aber Bremen lässt sich in Frankfurt so leicht nicht wiederholen.

Mit dem Münchner Merkur in die erste Liga
Ippen kauft was er kriegen kann, bundesweit, besonders gerne unterbewertete Verlage jenseits des Zenits. Im Januar 1982 kauft Ippen von Springer den heruntergewirtschafteten Münchner Merkur, das an der Isar ansässige Boulevardblatt tz und Anteile am Oberbayrischen Volksblatt (OVB) – ein unglaublicher Move für einen Verleger aus der westfälischen Provinz. Dirk Ippen, jetzt Anfang 40, ist in der ersten Liga der Verleger angekommen – und fürderhin nicht mehr aufzuhalten.

Wenden wir diese Laudatio, denn der Verfasser ist keiner der Lohnschreiber des Herrn Dr. Ippen.

Da sich mit Qualitätsjournalismus kein Geld verdienen lässt, wie Ippen und vor allem sein Neffe Daniel Schöningh immer wieder betonen, drängt sich die Frage auf, wo die Gewinne herkommen. Denn 500 Millionen Euro lassen sich nicht so leicht aus Kreisanzeigern und Anzeigenblättern, also mithin aus den eher bescheidenen Erträgen der lokalen Einzelhändler und Gewerbetreibenden, pressen. Auch nicht in 25 Jahren. Wie – oder: auf wessen Kosten, die Frage muss erlaubt sein – wurde jemand wie Dirk Ippen so obszön reich?

Auf jeden Fall mit brutaler Zielstrebigkeit. Wo Ippen, der “Sanierer”, aufschlägt, bleibt kein Stein auf dem anderen. Gewachsenes ist dem Fremden fremd. Immer werden Redaktionen “verschlankt” oder zusammengelegt, immer wird im Anzeigenverkauf die Schlagzahl erhöht. Wer sich nicht fügt, fliegt. Ippen ist im System Ippen immer Gewinner.

Nordhessen wird Ippen-Land
Exemplarisch sei das “Prinzip Ippen” entlang der Übernahme der Hessisch Niedersächsischen Allgemeinen (HNA) im Jahr 2002 skizziert: Altverleger Rainer Dierichs hatte Jahre zuvor in aller Stille auch den regionalen Anzeigenblattverlag erworben, weitere Zukäufe im Umland untersagte ihm jedoch der Bundesgerichtshof. Ippen und Schöningh fürchten das Kartellamt nicht und wagen erneut einen großen Coup: Im Februar 2002 übernimmt Ippen die damals zweitgrößte hessische Tageszeitung, wird zugleich Eigner des größten Anzeigenblattes (ExtraTip) und dessen ausgegliederter Vertriebseinheit “Top direkt”. Über eine Medienbeteiligungsgesellschaft (MBG Bad Hersfeld) kauft Schöningh im Sommer 2002 unauffällig auch den letzten echten Wettbewerber im Verbreitungsgebiet der HNA, die MB Media in Witzenhausen mit 17 Anzeigenblättern. Nordhessen wird binnen eines Jahres dem Ippen-Imperium einverleibt: Ende 2002 bedient Ippen mit der Tageszeitung HNA über 220.0000 Abonnenten und erreicht mit seinen Anzeigenblättern fast 750.000 Haushalte. Natürlich wirkt das nordhessische Pressemonopol wettbewerbsverzerrend – doch wenn es um Ippen geht, schweigen die Wettbewerbshüter – einmal mehr.

Zwar kann man dem Lebenswerk des heute Geehrten getrost die Vernichtung hunderter, vermutlich sogar tausender Redakteurs- und Journalistenarbeitsplätze zurechnen. Doch auch das Schicksal der HNA erklärt nicht zureichend, wie man binnen eines Lebens so unglaublich reich werden kann.

2015: Eine Großrazzia bringt Unschönes zutage
Das offenbart erst eine Großrazzia im April 2015, bei der 600 Zollbeamte ausrücken, um insgesamt 90 Durchsuchungsbeschlüsse zu vollstrecken. Wie der SPIEGEL seinerzeit schreibt, wurde nach Informationen des Hamburger Nachrichtenmagazins „Vermögen im Wert von etwa zwei Millionen Euro sichergestellt. Die Behörden gehen davon aus, dass die Unternehmen, die zum Einflussbereich des Münchner Verlegers Dirk Ippen gehören, sich mit einem illegalen Trick um Sozialversicherungsabgaben in Millionenhöhe gedrückt haben. Im Zentrum steht dabei nach Angaben eines Ermittlers neben einem Offenbacher Unternehmen die Firma Top Direkt Marktservice GmbH in Kassel, die von dem Ippen-Neffen Daniel Schöningh geleitet wird und unter anderem auf die Verteilung kostenloser Werbezeitschriften spezialisiert ist.“ Rührt etwa ein erklecklicher Teil des Ippen-Vermögens von der Ausbeutung seiner Austräger?

Die Antwort ist ein eindeutiges JA. Zwar ist es Daniel Schöningh seinerzeit in Kassel noch einmal gelungen, den eigenen Kopf aus der Schlinge zu ziehen. Doch Einsicht zeigen die Herren Ippen und Schöningh nicht. Im Gegenteil, beide betonen seither bei jeder Gelegenheit, der Mindestlohn für Austräger sei das Totenglöckchen der Branche. Letzte Woche hat der alte Herr sogar vorgeschlagen, die Tätigkeit den haushaltsnahen Dienstleistungen zuzurechnen. Einfach dreist.

Denn was kaum jemand weiß: Für Zeitungs- und Blättchen-Austräger gibt es dank der erfolgreichen Lobbyarbeit des Verlegerverbandes eine andauernde nachteilige Ausnahme vom gesetzlichen Mindestlohn. Damit die arg gebeutelten Verleger nicht verarmen, gilt für Austräger immer der Mindestlohn des vorletzten Jahres. So lassen sich, ich habe es an anderer Stelle einmal vorgerechnet, pro Austräger als Beitrag zur Rettung des Qualitätsjournalismus bestimmt 500 Euro im Jahr einsparen. Meines Wissens existiert dieses Sonderrecht bis heute. Pfui.

Wer sozial Schwache ausbeutet, kann kein Humanist sein
Bringen wir diesen schrecklichen Riemen zu Ende. Natürlich war Dirk Ippen in seiner Zeit ein Visionär. Aber zur Wahrheit gehört eben auch, dass der über komplizierte Eigentumsverhältnisse promovierte Jurist beim Aufstieg gemeinsam mit seinen Geschäftspartnern Wettbewerber, Altverleger und Kartellämter an der Nase herumgeführt hat. Auch den Niedergang des deutschen Journalismus hat Ippen nicht alleine zu verantworten, da haben auch andere gierige Verleger ihren Beitrag geleistet. Absolut scheinheilig ist es allerdings, sich ausgerechnet von Daniel Schöningh als “Humanist im besten Sinne” titulieren zu lassen. Denn wer mit System Schüler, aber auch Alleinerziehende und sozial Schwache ausbeutet, kann kein Humanist sein.

Nun kennen Sie Dirk Ippen, besser meine Sicht auf den Herrn Doktor. Sie haben verstanden, wie Dirk Ippen so reich werden konnte. Und vermutlich auch, warum den Schleimereien seiner Lohnschreiber am heutigen Tag ein so umfänglicher Text entgegengestellt werden muss. Denn zu unser aller Glück tippen immer noch nicht alle für Ippen. Herzlichen Glückwunsch!

Quellen / Nachweise:

Ippen, Dirk: Mein Leben mit Zeitungen (2019).
https://societaets-verlag.de/produkt/mein-leben-mit-zeitungen/

Kreissl, Rüdiger: Alle tippen für Ippen. (1.6.2003)
https://mmm.verdi.de/medienwirtschaft/alle-tippen-fuer-ippen-23301

FAZ.net Auch in der zweiten Liga spielt man schön. (2.7.2011)
https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/medien/zeitungsverleger-dirk-ippen-auch-in-der-zweiten-liga-spielt-man-schoen-1656003.html

Skandal Chronik . Großrazzia: 600 Beamte durchleuchten Ippens Zeitungsvertrieb. (21.4.2015 ff) http://werra-meissner-dreist.de/skandal-chronik/

SPIEGEL online. Razzia bei Zeitungsvertrieben. (24.4.2015)
https://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/sozialabgaben-razzia-bei-zeitungsvertrieben-a-1030427.html

Deutschlandfunk. Die Erfolgsgeschichte eines Verlegers. (13.10.2020)
https://www.deutschlandfunk.de/dirk-ippen-wird-80-die-erfolgsgeschichte-eines-verlegers.2907.de.html?dram:article_id=479103

Newsroom.de. Warum Verleger Dirk Ippen weitere Anteile verschenken will und an wen (6.10.2020) https://www.newsroom.de/news/aktuelle-meldungen/vermischtes-3/warum-verleger-dirk-ippen-weitere-anteile-verschenken-will-und-an-wen-912994/

MDR. Medien360G / Altpapier. Das gedruckte Facebook. (14.10.2020)
https://www.mdr.de/altpapier/das-altpapier-1704.html

Studentischer Protest 1960 – Die späte Anerkennung

Erstveröffentlichung dieses Textes in dem Blog
ZETT-UND-ZETT. Zeitgeschichte und Zeitgeschehen

Es ist der 18. Januar 1960. Auf dem Berliner Steinplatz, unweit des Bahnhof Zoo, versammeln sich nahezu 3.000 Studierende, Professorinnen und Professoren der Westberliner Hochschulen. Sie protestieren gegen Antisemitismus und Neonazismus, gegen die antisemitischen Zwischenfälle des Winters 1959/60 und gegen wiederamtierende “Ehemalige” – namentlich gegen Schröder, Globke und Oberländer: Karl Heinz Globke, maßgeblicher Kommentator der Nürnberger Rassegesetze und Kanzleramtschef unter Konrad Adenauer; Theodor Oberländer, der als sogenannter “Ostforscher” Denkschriften und Expertisen zur Legitimation der Zwangsumsiedlungen der Zivilbevölkerung in Osteuropa verfasst und es in der Regierung Adenauer zum Vertriebenenminister geschafft hatte; und Gerhard Schröder, Bundesinnenminister und seit der Vorlage des ersten Entwurfs der Notstandsgesetze im Jahre 1958 in der Kritik.

Unzählige Grabsteinen auf jüdischen Friedhöfen waren seit Weihnachten 1959 in ganz Westdeutschland geschändet, Synagogen mit Hakenkreuzen verunstaltet worden. Die Presse im In- und Ausland berichtete ausführlich und spätestens seit dem Ulmer Einsatzgruppenprozess zwei Jahre zuvor war klar: Eine noch unbekannte Zahl von NS-Verbrechen war bislang ungeklärt und ungeahndet und ehemalige Funktionäre des NS-Regimes besetzen hohe Positionen in Regierung, Verwaltung und saßen auf den Richterstühlen. Für die junge Generation war sehr offensichtlich, was im Land im Argen lag. Der Protest am 18. Januar war öffentlicher Ausdruck dieses Unbehagens und zugleich eine Forderung nach einer Änderung der Verhältnisse.

Die Abwehr dieser Proteste folgte einer Struktur, die auch heute noch bekannt ist: die Akteure zu jung, zu unwissend, zu naiv. Die Gruppe, die sie repräsentierten zu klein. Von immerhin 20.000 Studierenden der Westberliner Hochschulen hatten nur 3.000 an dem Protest teilgenommen. Wer nicht still und betroffen der Opfer des Nationalsozialismus gedachte, sondern auf Missstände der Gegenwart hinwies und Namen nannte, der hatte zweifelsohne Hintermänner in der DDR, besorgte das Geschäft der Kommunisten. “Mit Anhängern des Nationalsozialismus werden wir in Berlin auch ohne kommunistische Hilfe fertig”, so der Westberliner Innensenator Joachim Lipschitz.

Nicht nur auf Demonstrationen und Protestmärschen wiesen die Studierenden auf die Missstände hin. In Petitionen an den Deutschen Bundestag und an die Länderparlamente im Jahr zuvor, hatten Studierende aus dem gesamten Bundesgebiet um Aufklärung über die Wiederverwendung ehemaliger NS-Justizjuristen im Justizdienst der Bundesrepublik gebeten. An der Freien Universität Berlin wurde die Petition von einer Unterschriftenaktion begleitet, zugleich stellten Studierende verschiedener Studentenverbände eine historisch-politische Ausstellung aus Akten der NS-Sondergerichte zusammen, um die Öffentlichkeit über die Vergangenheit ehemaliger NS-Richter und Staatsanwälte und ihre Tätigkeit in der Nachkriegsjustiz aufzuklären.

Die Unterschriftenaktion zur Stützung einer Petition an den Deutschen Bundestag begegnete an der Freien Universität zahlreichen Verboten. Sie durfte auf dem Gelände der Universität nicht durchgeführt werden, so sammelten die Studierenden Unterschriften vor der Mensa. Die Hochschulleitung der Freien Universität Berlin ging gegen den AStA vor und sprach diesem als Gremium der universitären Selbstverwaltung das Recht auf politische Meinungsäußerung ab.

Als die von den Studierenden erarbeitete Ausstellung im Februar 1960 unter dem Titel „Ungesühnte Nazijustiz“ in Westberlin präsentiert werden sollte, schlug den Studierenden heftige Gegenwehr entgegen. Insbesondere der damalige Justizsenator Valentin Kielinger und die ihm unterstehende Senatsverwaltung für Justiz brachten sich gegen die Studierenden in Stellung. Der Leitung der Westberliner Hochschulen wurde eindringlich geraten, den Studierenden keine Räume zur Verfügung zu stellen. Der Kultursenator rief die Westberliner Lehrer dazu auf, sich von der Ausstellung fern zu halten. Als schließlich die “Galerie Springer” den Studierenden Räume am Kurfürstendamm zur Verfügung stellte, wurde versucht, auf die Vermieterin des Galeristen Rudolf Springer einzuwirken, um auch dort die Ausstellung zu untersagen – dieses Mal jedoch ohne Erfolg. Die Ausstellung fand statt, am Kurfürstendamm 16, im Herzen Berlins und zog die Aufmerksamkeit der in Westberlin zahlreich vertretenen internationalen Presse auf sich.

Nun kann man sich diese Ausstellung, die von Studierenden mit denkbar geringen finanziellen Mitteln erstellt worden ist, nicht einfach genug vorstellen. Knapp Hundert einfache Aktenordner, gefüllt mit den Kopien von Verfahrensprotokollen der NS-Sondergerichte, dazu handschriftliche Anmerkungen und maschinenschriftliche Listen mit den Namen der beteiligten Juristen, ihrer ehemaligen Funktion und ihrem neuen Tätigkeitsort in der westdeutschen Justiz. Die Kopien hatte der Initiator der “Aktion Ungesühnte Nazijustiz”, der Westberliner Student Reinhard Strecker, aus Archiven aus Ostberlin, Warschau und Prag geholt, die Angaben wo in Westdeutschland und Westberlin die einzelnen an den teilweise haarsträubenden NS-Urteilen beteiligten Richter und Staatsanwälte wieder Dienst taten gemeinsam mit Mitstudierenden anhand der Handbücher der Justiz geprüft. Die so erarbeiteten Listen und Urteile wurden in Ausstellungen in Karlsruhe, Westberlin, Stuttgart, Kiel, Hamburg, München, Freiburg/Brsg., Göttingen, Tübingen und schließlich auch in Oxford, Leiden und Utrecht, sowie auf Einladung eines überparteilichen Komitees im britischen Unterhaus präsentiert.

In Zeiten von Whatsapp, Twitter, Facebook und Internet kann es nur erstaunen, welche Reichweite die Studierenden mit diesen einfachen Mitteln erreichten. Anfang der 1960er Jahre war es dieser Gruppe engagierter Studierender gelungen, mit einer Wanderausstellung zur NS-Justiz eine politische und öffentliche Debatte zum politischen und justizpolitischen Umgang mit wiederamtierenden ehemaligen NS-Justizjuristen anzuregen. Tageseitungen im In- und Ausland berichteten, ebenso Rundfunk und Fernsehen.

Die Gegenwehr war zunächst gewaltig. Den Studierenden wurde nach überkommenem Duktus ihre Jugend vorgeworfen und politische Naivität unterstellt. Sie seien entweder von Hintermännern aus Ostberlin gesteuert, oder leisteten den propagandistischen Zielen des Ostens Vorschub. Insbesondere die Westberliner Senatsverwaltung für Justiz unter ihrem Justizsenator Valentin Kielinger tat sich mit Angriffen gegen die Studierenden hervor. Insbesondere der Initiator Reinhard Strecker stand im Zentrum der Angriffe. Auch als der amtierende Generalbundesanwalt Max Güde schon längst die Authentizität der ausgestellten Unterlagen bestätigt hatte, wurde Justizsenator Kielinger nicht müde, die Studierenden und die Ausstellung in der Öffentlichkeit weiterhin als von “sowjetzonaler Seite inspiriert” zu diskreditieren.

Was als Aktion eines einzelnen Studenten, der sich aus reinem Interesse an der Thematik in das Thema “eingegraben” hatte begann, zog bald mehr und mehr Studierende an. Sie studierten in ihrer Freizeit Akten, stellten Material zusammen und organisierten Ausstellungen in der ganzen Republik. Es gelang ihnen, gegen alle Widerstände eine in der Bonner Republik gern unter der Decke gehaltene Thematik aufs politische Tapet zu bringen. Demonstrationen, öffentlicher Protest, Petitionen an Bundestag und Länderparlamente, Ausstellungsaktionen, ein umfangreiche Berichterstattung in den Medien und nationale und international Aufmerksamkeit. So in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt, waren Bundestag und Bundesrat, Landesregierungen und -Parlamente gezwungen, sich mit der Thematik auseinanderzusetzen.

Mit dem Paragraph 116 des Deutschen Richtergesetzes vom 8. September 1961 wurde schließlich eine Regelung geschaffen, das vorzeitige Ausscheiden politisch belasteter Justizjuristen zu ermöglichen. Auch dieses Gesetz ging sehr milde mit den ehemaligen NS-Juristen um, basierte auf Freiwilligkeit und ermöglichte das Ausscheiden bei vollen Bezügen, aber im Vergleich zum vorherigen Beschweigen und Verleugnen war es für die damalige Zeit ein großer Schritt. Den Ausgang nahm dies alles bei einigen Studierenden, die sich für ein ihnen am Herzen liegendes Thema engagierten und Politik beeinflussen wollten.

Die Kritiker des Studentenprotests hatten sich damals auf den Initiator Reinhard Strecker `eingeschossen´. Er hatte die Aktenkopien aus Ostberlin, Prag und Warschau besorgt, er war das Gesicht des Protests. Anerkennung für seine Verdienste hatte er über die Jahre nur in Form von Zuspruch seiner ehemaligen Kommilitonen erhalten, sowie durch die Würdigung der Aktion in der historiographischen Literatur. Der Kampf um eine offizielle Würdigung dauerte Jahre. Erst im August 2015, über 55 Jahre nach Eröffnung der Ausstellung “Ungesühnte Nazijustiz” in Berlin, wurde ihm in Anerkennung seiner Verdienste um die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit das Bundesverdienstkreuz verliehen. Dennoch dauerte es noch bis zum April 2019, bis sich der amtierende Berliner Justizsenator Dirk Behrendt für die Angriffe seines Amtsvorgängers Valentin Kielinger gegen Reinhard Strecker und die “Aktion Ungesühnte Nazijustiz” entschuldigte. Im November 2019 wird wiederum die Stadt Karlsruhe, deren Stadtoberen im November 1959 noch gegen die Eröffnung der Ausstellung in der Karlsruher Stadthalle, dem ersten Ausstellungsort der Wanderausstellung, vorgegangen waren, die “Ungesühnten Nazijustiz” im Rahmen eines Symposiums ehren – Jahrzehnte nach der Aktion, nach Jahrzehnten, die Reinhard Strecker zwischen Zuspruch und Anfeindung erlebt hat.

Die Geschichte der “Aktion Ungesühnte Nazijustiz” macht nachdenklich und weckt Hoffnung. Sie stimmt nachdenklich, weil hier exemplarisch die Macht des Status Quo gegenüber progressiven Kräften deutlich wird, mit welchen Mitteln gegen Kritik und Protest vorgegangen wird. Sie weckt Hoffnung, weil sie anschaulich verdeutlicht, wie mit geringsten Mitteln die Öffentlichkeit aufgerüttelt und politische Verhältnisse geändert werden können. Es ist eine Thematik, die im Hinblick auf die aktuellen Proteste von Schülerinnen und Schülern für das ihnen am Herzen liegende Thema “Klimawandel” nicht zeitgemäßer sein kann. Wer den Wandel will, muss sich engagieren und wer sich engagiert, kann Politik beeinflussen und Themen setzen. Sie zeigt aber auch, dass die Argumente und Mittel gegen Jugendproteste sich wiederholen, sich die Strukturen der Abwehr immer gleichen. Die Argumente zielen immer auf die Jugend der Akteure ab, unterstellen Weltfremde, Naivität, vermuten Hintermänner und Strippenzieher. “Ihr seid ja nicht dabei gewesen!” – “Geht lieber in die Schule und lernt erst mal was ordentliches!” – “Ihr besorgt das Geschäft der Feinde der Demokratie!” Die Argumente der Abwehr gleichen sich. Doch wer die Strukturen der Abwehr erkennt, kann sich ihrer erwehren, und wer mit Überzeugung und Engagement auf politische und gesellschaftliche Defizite hinweist und den Wandel einfordert, der kann den Wandel erreichen. Das sind die großen Lehren der “Aktion Ungesühnte Nazijustiz”.

___________________________________________________________________

Nähere Informationen zur Aktion “Ungesühnte Nazijustiz” unter:

Stephan Glienke: Die Ausstellung “Ungesühnte Nazijustiz” (1959-1962). Zur Geschichte der Aufarbeitung nationalsozialistischer Justizverbrechen. Nomos-Verlag, Baden-Baden 2008.

Stephan Glienke: Studenten gegen Nazi-Richter. In: SPIEGEL ONLINE 24.02.2010

https://www.spiegel.de/einestages/nachkriegsskandal-a-948742.html

Erstveröffentlichung dieses Beitrags am 24.4.2019 in dem Blog “ZETT-UND-ZETT. Zeitgeschichte und Zeitgeschehen”, Direktlink:

Studentischer Protest 1960 – Die späte Anerkennung

Feels like History in Love – wehmütiger Rückblick auf eine Art Junghistoriker-Klassentreffen in Darmstadt: das histocamp 2017

Letzte Woche, am 1./2. Dezember 2017, fand zum dritten Mal seit 2015 das histocamp statt, diesmal in den Räumen der Schader-Stiftung in Darmstadt. Wie schon letztes Jahr, als trotz der gediegen-betongepanzerten Räumlichkeiten die good vibrations wissenschaftlich-spielerischer Spontaneität alsbald durch das Mainzer Rathaus waberten, war man sich auch diesmal am Ende der von dem Verein Open History organisierten „Nicht-Tagung“ darüber einig, dass ein Barcamp für Historiker ein überaus bereichendes Format sein kann – und insofern zur Nachahmung dringend empfohlen werden muss.

Inzwischen gibt es bereits zwei erste Rückblicke auf dieses auf vielerlei Weise außergewöhnliche Wissenschaftsevent:
So findet sich auf Flickr ein stimmungsvolles Fotoalbum des Bonner Geschichtsdoktorandenpaars Marit und Jan Kleinmanns. Abgerufen werden kann das histocamp-Kleinmanns-Shootings unter folgendem Link:
https://www.flickr.com/photos/histocamp/sets/72157667041160089
Außerdem hat die an der Universtität Trier promovierende Zeitgeschichtshistorikerin Maike Axenkopf einen neuen Beitrag für ihren Blog “PromoGeschichte_n” (https://promogeschichten.wordpress.com/2017/12/04/das-histocamp/) geschrieben, in dem sie ihre Eindrücke aus Darmstadt u.a. in folgende Worte fasst: “So ein bisschen ist das histocamp wie ein Klassentreffen mit Menschen, die man vorher noch nie getroffen hat, mit denen man aber direkt eine Ebene findet und sich wohl fühlt.”

Wer nun noch mehr über Wohlfühlwonnen von zumeist noch eher weniger als mehr ergrauten (Nachwuchs-)Historikern nachträglich erfahren möchte, kann sich bei Twitter durch den Hashtag #histocamp durchklicken – Vorsicht, Überlänge!

Weiteres Gezwitscher von mir selbst zum histocamp findet sich übrigens auch direkt auf meiner Twitter-Homepage unter https://twitter.com/Muenchen1968

Schale Vorfreude auf ein FIFA-Fußballfest

Erfreulich, dass Jogis zweiter Anzug im Jugendstil so sportlich-elegant den deutschen Fußball kleidet, dass heute vielleicht das Confed-Cup-Finale gewonnen werden kann. Sogar von einer Titelverteidigung im nächsten Jahr darf man nun wohl träumen…

Traurig mutet es aber an, dass das heutige Spiel in einem Stadion stattfindet, das in St. Petersburg unter skandalösen Arbeitsbedingungen errichtet worden ist (mehr dazu in folgendem Spiegel-Online-Artikel: http://www.spiegel.de/sport/fussball/confed-cup-2017-in-russland-das-skandal-stadion-von-sankt-petersburg-a-1152407.html). FIFA-Fußballweltmeisterschaften dienen in den nächsten Jahren zwei zahlungskräftigen autokratischen Regimen zur Selbstbeweihräucherung, zu deren Zweck bei der gigantomanischen Festvorbereitung auch jahrelange Ausbeutung und Sklavenarbeit in Kauf genommen werden – ob nun in Russland oder in Katar.

Aber sollte da die nicht gerade die deutsche Geschichte uns eigentlich zu mehr Wachsamkeit mahnen? Die Olympiade 1936 war der zeitgeschichtliche Sündenfall der Indienstnahme eines sportlichen Großereignisses durch ein menschenrechtsfeindliches Regime – im 21. Jahrhundert droht nun dieser appeasementpolitische Sünden- zum neoliberalen Regelfall zu werden. Begünstigend für diese Tendenz ist offenbar, dass die sportpolitischen Großgremien IOC und FIFA zunehmend von ebenso unfähigen wie profitgeilen, korrupten und gewissenlosen Funktionären dominiert werden.

“Augen zu und durch” scheint jedenfalls die Parole bei der FIFA zu sein, solange ihre Kassen nur laut genug klingeln – können wir uns an solchen Sport”festen” aber wirklich ehrlicherweise noch erfreuen (und als Fernsehzuschauer indirekt zu ihrer Finanzierung mit beitragen)? Und wird der DFB erst gegen die FIFA rebellieren, wenn eine WM nach Nordkorea vergeben werden sollte?

 

„MenschenRechte!“ – histoire engagée in einer Lesung über Widerstand und Überleben

„MenschenRechte! Vom Widerstand und Neubeginnen“, lautete der Titel einer Veranstaltung, zu der die BUXUS STIFTUNG am 15. Februar 2017 in die Westtorhalle in Seehausen-Riedhausen bei Murnau am Staffelsee eingeladen hatte.[i] Schwerpunktmäßig ging es um ein gut erforschtes zeithistorisches Sujet, Widerstand und Überleben in der Zeit des Nationalsozialismus, doch war diese Thematik nicht Gegenstand eines gelehrten Vortrags, sondern sie wurde dem Publikum in Form einer historisch-literarischen Lesung vermittelt. Das Skript dazu hatte die Historikerin Irmtrud Wojak verfasst. Ihr Textprogramm aus Quellenauszügen, einordnenden Erläuterungen und gegenwartsbezogenen Reflexionen trug sie selbst im Wechsel mit dem Schauspieler und Sprecher Christian Jungwirth vor.

Das Recht auf Widerstand und der Kampf für Humanismus und Menschenrechte waren für den ersten Protagonisten des Abends, den als Initiator des ersten Frankfurter Auschwitz-Prozesses in den 1960er Jahren bekannt gewordenen hessischen Generalstaatsanwalt Fritz Bauer, durchaus eng miteinander verbunden: „Widerstand ist der Aufwand unseres Mitgefühls, das Kämpfen und – wie die Geschichte nur zu oft zeigte – auch ein Fallen für eine humanistische Welt“, beschloss er 1968 seinen Vortrag über „Ungehorsam und Widerstand in Geschichte und Gegenwart“.[ii] Ausführlicher zitiert wurde an dem Abend allerdings nicht aus dieser letzten großen Ansprache Bauers, die er auf Einladung der Humanistischen Union in München gehalten hatte, sondern aus einer Gedenkrede anlässlich des Geburtstags von Anne Frank aus dem Jahr 1963. Darin beschäftigte er sich zum einen kritisch mit der geringen Bereitschaft seiner bundesdeutschen Zeitgenossen, sich mit der NS-Vergangenheit gesellschaftlich wie juristisch auseinanderzusetzen. Zum anderen ging Bauer, der als Sozialdemokrat mit jüdischem Elternhaus selbst als Verfolgter in Skandinavien hatte Zuflucht suchen müssen, äußerst gedankenreich und einfühlsam auf Franks Tagebuchtext ein. Denn für ihn war das Mädchen Anne Frank ein Symbol für „die Verfolgten, die Unglücklichen, wo immer sie lebten und leben, litten und leiden, starben und sterben, weil der Staat Unrecht tut oder duldet“.[iii]

Auf Bauers Ausführungen folgten an dem Abend Ausschnitte dreier retrospektiver Selbstzeugnisse, bei denen das widerständige Überleben im Konzentrationslager aus ganz unterschiedlichen Blickwinkeln thematisiert wurde. So gehörte die Wiener Ärztin Ella Lingens, die 1963 auch als Zeugin im ersten Auschwitz-Prozess aussagte, in der NS-Lagerhierarchie als so genannte „Arierin“ zu den privilegierten Häftlingen. Dennoch entschied sie sich dagegen, zur Kollaborateurin des Unrechts zu werden und setzte sich u. a. auch für eine junge Frau ein, der der Abtransport zum Tod in den Gaskammern drohte. Wenngleich die zunächst gerettete Frau Lejmann später doch einer Tbc-Erkrankung erlag, kam Lingens in ihrem Buch Gefangene der Angst dennoch zu folgendem zutiefst humanistischen Resümee: „Trotzdem: Manchmal muss man Dinge um ihrer selbst willen unternehmen – ohne Rücksicht auf ihren Erfolg.“[iv]

Ella Lingens gelang es, sich selbst in Auschwitz nicht ihre Ehre und Selbstachtung rauben zu lassen. Der 1924 geborene Jacques Lusseyran, der als Kind schon erblindet war, aber dennoch an der Sorbonne studierte und später sogar Literaturprofessor wurde, lernte im Konzentrationslager Buchenwald den Mithäftling Jérémie Regard kennen – eigentlich ein einfacher Schmied, der aber im Lager „Sokrates“ genannt wurde. Wie Lusseyran in seinem Buch Das wiedergefundene Licht schildert, lehrte „Sokrates“ ihn und seine Mithäftlinge, selbst in der lebensfeindlichen KZ-Umwelt zwischenmenschliche Alltäglichkeit zu erhalten und so trotz allen Leidens Momente der Freude miteinander teilen zu können: „Er sagte, im normalen Leben hätten wir mit guten Augen dieselben Schrecken gesehen. Früher sei es ja auch möglich gewesen, glücklich zu sein. Jetzt hätten uns die Nazis ein schreckliches Mikroskop in die Hand gegeben: das Lager. Das sei kein Grund, das Leben aufzugeben.
Jérémie ging mit gutem Beispiel voran: Mitten im Block 57 fand er Freude. Er fand sie zu den Zeiten des Tages, in denen wir nur Angst empfanden. Und er fand sie in so reichem Maße, dass wir sie, wenn er anwesend war, in uns aufsteigen spürten. Und dass Freude uns erfüllte, dass war in unserer Lage ein unerklärliches, ja unglaubhaftes Gefühl.
Welche ein Geschenk war das, was uns Jérémie machte! Man verstand zwar nicht, aber man war ihm dankbar, immer wieder dankbar.“[v]

Widerständiges Überleben als Lebensbejahung – darüber machte sich auch der Neurologe und Psychiater Viktor Frankl in seinen Erinnerungen unter dem Titel …trotzdem Ja zum Leben sagen Gedanken. Frankl hatte die Konzentrationslager Theresienstadt und Auschwitz überlebt, aber im Holocaust seine junge Frau und fast seine ganze Familie verloren. Er veröffentlichte 1946 eine autobiographische Schrift, um zu zeigen, dass „das Leben unter allen – selbst unter den schlimmsten – Umständen einen potentiellen Sinn hat.“[vi] Dieser entfaltet sich für Frankl in einem menschlichen Akt der bewussten Entscheidung:
„Was also ist der Mensch? Er ist das Wesen, das immer entscheidet, was es ist. Er ist das Wesen, das die Gaskammern erfunden hat; aber zugleich ist er auch das Wesen, das in die Gaskammern gegangen ist, aufrecht und ein Gebet auf den Lippen.“[vii]

 

Tiefsinnige Denkanstöße des Abends ergaben sich so aus der Auseinandersetzung mit der Erinnerungsliteratur von Holocaust-Überlebenden; zugleich wollte die Lesung offenkundig auch zu zeitübergreifenden Einsichten anregen. Das wurde insofern deutlich, als mit Karoline Mayer eine Stimme des chilenischen Widerstands gegen das Pinochet-Regime der 1980er Jahre, des Movimiento Contra la Tortura Sebastián Acevedo, zu Wort kam.[viii] Und schließlich war es Irmtrud Wojak selbst, die in ihren eigenen Ausführungen immer wieder den Bogen bis zur Gegenwart spannte, so etwa im Schlussteil des Abends:
„Was wir tun können? Von Fritz Bauer und den Widerstandskämpferinnen und -kämpfern aller Zeiten können wir lernen, das Kritik und Opposition das Lebensprinzip der Demokratie ist, ja, dass Demokratie zum Widerstand geradezu einlädt. Demokratie fordert die kämpferische Auseinandersetzung über die ihr eingelagerten Gegensätze in allen Bereichen des menschlichen Zusammenlebens.“
Zweifellos ist es ein weitreichender Anspruch an einen „stets und ständig“ zu übenden „Widerstandsgeist“, den Wojak formulierte. Der Abend war aber offensichtlich darauf angelegt, keine fertigen Antworten zu liefern, sondern vor allem kritische Denkanstöße zu geben, so auch Anregungen für das Infragestellen des Vorgetragenen selbst. Die Beschäftigung mit der Geschichte des Widerstands gegen Menschenrechtsverletzungen präsentierte sich nicht als gelehrter Selbstzweck, sondern als Anregungspotential für eigenständige gegenwartsrelevante Gedanken der Zuhörer.

Das Publikum in der gut besuchten Westtorhalle spendete am Ende der Lesung den beiden Vortragenden viel Beifall – ganz offensichtlich war die Veranstaltung trotz ihrer durchaus schwierigen inhaltlichen Kost nicht zuletzt aufgrund ihrer Vermittlungsform als kommentierte Lesung gut angekommen. Denn der Wechsel zwischen den erläuternden Ausführungen aus der intellektuellen Perspektive der Wissenschaftlerin Irmtrud Wojak und dem eindringlichen Vortrag von Quellenausschnitten, die in ihrer gedanklichen Tiefe durch den Sprecher Christian Jungwirth wirkungsvoll zur Geltung gebracht wurden, erzeugte eine fruchtbare Spannung, die auch über neunzig Minuten im Publikum spürbar erhalten blieb.

Insofern bleibt zu hoffen, dass die vor vier Jahren gegründete BUXUS STIFTUNG bei ihrem Anliegen, „Geschichte neu zu denken“ und damit verstärkt in die Öffentlichkeit hinein zu wirken, sich künftig öfter dieser oder anderer offener Vermittlungsformen bei ihren Veranstaltungen bedient. Denn in der steppenähnlichen Landschaft der bundesdeutschen Geschichtsvermittlung wäre es sicher erfrischend, wenn neue Akteurinnen und Akteure von den angestammten, oft eher wenig engagierten Wegen der Diskussion und Vermittlung wissenschaftlicher Erkenntnisse abwichen, die von der herrschenden„historischen Zunft“ der Bundesrepublik in ihrer traditionellen Elfenbeinorientierung gepflegt werden.

 

Anmerkungen:

[i] http://www.buxus-stiftung.de/images/download/MenschenRechte_15-02-2017.pdf

[ii] Fritz Bauer, Ungehorsam und Widerstand in Geschichte und Gegenwart [Vortrag an der LMU München auf Einladung der Humanistischen Union, gehalten am 21.6.1968], in: vorgänge 7 (1968), H. 8/9, S. 286-292, hier S. 292 (Online abrufbar unter: http://www.humanistische-union.de/nc/wir_ueber_uns/geschichte/geschichtedetail/back/geschichte/article/ungehorsam-und-widerstand-in-geschichte-und-gegenwart/).

[iii] Fritz Bauer, Lebendige Vergangenheit [Gedenkrede zum 34. Geburtstag von Anne Frank], in: vorgänge 2 (1963), H.7, S. 197-200.

[iv] Ella Lingens, Gefangene der Angst. Ein Leben im Zeichen des Widerstandes, Wien 2003.

[v] Jacques Lusseyron, Das wiedergefundene Licht, Stuttgart 1966.

[vi] Viktor Frankl, …trotzdem Ja zum Leben sagen. Drei Vorträge, Wien 1946.

[vii] Ebd.

[viii] Karoline Mayer, Das Geheimnis ist immer die Liebe, Freiburg 2006.

Diese Blog-Artikel erschien erstmals im Februar 2017 auf der Webseite der Buxus-Stiftung. Alle Tweets über die Veranstaltung finden sich unter #MenschenRechte! oder direkt auf dem Twitter-Account der BUXUS STIFTUNG (https://twitter.com/BUXUSSTIFTUNG).