William Washington Browne (1849 – 1897)

William Washington Browne (1849 – 1897)

Vom Sklaven zum Bankdirektor

In Sklaverei geboren, entkam William Washington Browne seinem Sklavenhalter zu Beginn des amerikanischen Bürgerkrieges, trat der Armee der Nordstaaten bei und war nach Ende des Krieges Mitbegründer und Leiter der ersten von Black Americans geführten Bank in den USA.

Browne wurde am 20. Oktober 1849 als Ben Browne in Habersham County, Georgia geboren. Seine Eltern, Joseph und Mariah Browne, waren Sklaven und so wuchs auch Ben als Sklave auf. Mit acht Jahren wurde der Junge an einen Pferdehändler verkauft und sein Name wurde in William Washington änderte. 1862 besetzten die Nordstaaten im amerikanischen Bürgerkrieg Memphis. Browne gelang die Fluch, er schloss sich der Armee der Union an und diente auf einem Panzerboot und später in der Infanterie. 1866 wurde er aus dem Militärdienst entlassen. In Prairie du Chien, Wisconsin, holte er seine Ausbildung nach. 1869 kehrte er in die Südstaaten zurück und arbeitete als Lehrer.

Anfänge als Redner und Abstinenzler

In Alabama engagierte sich Browne im Kampf gegen den Ku Klux Klan und machte sich auf Kundgebungen im ganzen Land als öffentlicher Redner bekannt. 1870 bewarb er sich um eine Mitgliedschaft bei den Guttemplern („Independent Order of Good Templars“), einer Vereinigung von Abstinenzlern. Sein Gesuch wurde jedoch abgelehnt, da laut damals gültiger Satzung Schwarze nicht aufgenommen wurden. Ihm wurde angeboten, die Gründung eines separaten Verbandes unter dem Namen „Grand United Order of True Reformers“ zu unterstützen. Browne akzeptierte den Vorschlag, kündigte seine Anstellung als Lehrer, um sich ganz der neuen Aufgabe zu widmen.

Nach dem Ende des Bürgerkrieges litten Millionen ehemaliger Sklaven unter Mangel an Nahrungsmitteln, Wohnraum, Bildung und Arbeit. Zu ihrer Unterstützung waren in den Südstaaten der USA zahlreiche Wohltätigkeitsorganisationen aktiv. Bald nahmen die Black Americans die Sache selbst in die Hand und gründeten ihre eigenen Hilfsorganisationen. Sie sollten nicht nur die Armut unter den ehemaligen Sklaven bekämpfen, sondern die Community näher zusammenbringen – Ziele, die William Washington Browne teilte. Bald zählten die „True Reformers“ fünfzig lokale Gliederungen. Um für seine Sache zu werben, ließ er sich 1876 von der „Colored Methodist Episcopal Church Conference of Alabama“ zum Priester ernennen und gelangte so zu einiger Bekanntheit. Im selben Jahr baten ihn die Guttempler, die Leitung der „True Reformers“ in Richmond zu übernehmen, die nach anfänglichen Erfolgen mit schwindendem Interesse und sinkenden Mitgliederzahlen zu kämpfen hatten.

1888: Browne leitet als erster Black American eine Bank

Browne entwickelte daraufhin Pläne zur Umstrukturierung des Organisation. Sein Ziel war der Aufbau einer Versicherungsgesellschaft mit angeschlossener Bank. 1885 bot der „Supreme Fountain Grand United Order of True Reformers“ den ersten Versicherungsplan für Black Americans an. Die Profite aus dem Versicherungsgeschäft finanzierten die weitere Arbeit. Bald wurden Grundstücke und Immobilien in Richmond, Virginia und im Osten der Vereinigten Staaten erworben. Im März 1888 eröffneten die „True Reformers“ die erste von Black Americans geführte Bank in den USA: eine Bank von Black Americans, für Black Americans und mit William Washington Browne als ihrem ersten Leiter.

In den Folgejahren wurden weitere Immobilien aufgekauft, ein Pflegeheim für ältere Mitglieder kam hinzu, ein Hotel, ein Geschäft mit Merchandising und eine Wochenzeitung. Bald zählte der Verband der „True Reformers“ 10.000 Mitglieder. Von einer kleinen Vereinigung zur Werbung zum Alkoholverzicht hatte sich die von Browne geführte Organisation zum größten Verband und zum größten von Black Americans geführten Business im Land entwickelt.

Der „Grand Fountain, United Order of True Reformers“ war die erfolgreichste Vereinigung, die sich von einer wohltätigen Organisation zum Business gewandelt hatte. Brownes Tod im 1897 überlebten die „True Reformers“ nur wenige Jahre. Der Kollaps der verbandseigenen Bank 1910 läutete das Ende ein.

Bildquelle: https://en.wikipedia.org/wiki/File:William_W._Browne.jpg

Joseph Bologne de Saint-Georges

Joseph Bologne de Saint-Georges
Chevalier – Komponist – Fechter

Der Sohn eines französischen Pflanzers und einer schwarzen Sklavin führte ein ereignisreiches Leben. Sein Weg führte ihn aus der Karibik zur Ausbildung nach Frankreich, durch die Konzertsäle Europas, warf ihn mitten hinein in die Wirren der Französischen Revolution. Seine Herkunft wurde wiederholt zum Anlass genommen, seiner Karriere aus rassistischen Vorbehalten Steine in den Weg zu legen.

Le Chevalier de Saint-Georges von Mather Brown, 1787

Am 25. Dezember 1745 wurde Joseph Bologne auf der Karibikinsel Gouadeloupe geboren. Sein Vater George de Bologne de Saint-Georges (1711-1774) war Pflanzer auf der zum französischen Kolonialreich gehörenden Insel. Seine aus dem Senegal stammende Mutter Elizabeth Francoise war Zofe bei Georges Ehefrau Anne Nanon und bei der Geburt von Joseph gerade mal 16 Jahre alt. 1747 wurde George zu einem Duell gefordert und verletzte dabei seinen Gegner schwer. Der Mann starb wenige Tage später. George wurde des Mordes angeklagt, floh und wurde am 31. März 1748 in Abwesenheit zum Tode verurteilt, sein Besitz eingezogen.

Seine Ehefrau Anne Nanon kehrte daraufhin nach Frankreich zurück, gemeinsam mit ihrer Zofe und deren Sohn Joseph, dem illegitimen Kind von George de Bologne. Es war der Bruder des Vaters, wohlhabend mit besten Verbindungen zum Hof Ludwig XV, der Joseph den Weg zur höheren Bildung und in die feine Gesellschaft ebnete. Ab 1753 besuchte der Junge das Collège Saint-Louis im französischen Angoulême. Mit 13 Jahren erhielt er eine Fechtausbildung an der Schule des bekannten Fechtmeisters Nicolas Texier de la Boëssière, zudem eine musikalische Ausbildung. Ab 1763 verwendete Joseph den Titel seines Vaters und wurde im Jahr darauf in die Garde du corps du roi in Versailles aufgenommen, einer Elite-Einheit der Kavallerie. Mit 19 Jahren schloss er seine Ausbildung an der Fechtschule als einer der besten Fechter Europas ab. Wiederholt war sein Können Anlass, ihn zu Duellen herauszufordern. In mindestens einem Duell waren rassistische Beleidigungen eines Fechtmeisters Anlass genug für ein Duell. Joseph, damals Fechtschüler, besiegte Alexandre Picard, der ihn durch die Strassen von Rouen gefolgt war und ihn als „Boessiere’s mulatto“ beschimpft hatte.

Fechtduell zwischen St Georges und “La chevalière D’Eon”, 9. April 1787 im Carlton House, Gemälde von Charles Jean Robineau.

Josephs musikalische Anfänge sind nicht ganz eindeutig. So wird angenommen, dass er u.a. bei dem Violin-Virtuosen Pierre Gaviniès Unterricht nahm, doch gesichert ist dies nicht. Ende der 1760er Jahre trat er Gossecs Concerts des Amateurs bei, wo er 1772 mit zwei selbst komponierten Violinkonzerten debütierte und mit einem Schlag als Geigenvirtuose bekannt wurde. Als Gossec 1773 zum Direktor des Concert Spirituel ernannt wurde, übernahm Joseph die Leitung des Concert des Amateurs. Im selben Jahr erschienen sechs weitere Streichquartette. In den folgenden Jahren etablierte sich Joseph in der Pariser Musikszene.

Als sein Vater 1774 verstarb, erbte die Halbschwester die Plantagen auf Guadaloupe. Als außereheliches Kind erhielt Joseph nichts. Obwohl als Musiker, Komponist und vielseitiger Athlet eine in der Pariser Gesellschaft umschwärmten Persönlichkeiten, wurde er zunehmend mit Rassismus konfrontiert. An der Académie Royale de Musique weigerten sich einige Sängerinnen, unter einem „Mulatten“ zu singen, eine Tänzerin intervenierte gegen ihn durch einen einflussreichen Gönner bei Hofe und schließlich wurde die Berufung Josephs auf einen der Direktorenposten der Académie aus rassistischen Vorbehalten abgelehnt.

Es folgten 1777 die erste Oper und weitere Kompositionen. Sie blieben hinter dem Erfolg der ersten Werke zurück und Joseph komponierte keine eigenen Werke mehr, sondern konzentrierte sich auf seine Tätigkeit als Dirigent des Orchesters. 1781 wurde das Orchestre des Amateurs aus Geldmangel aufgelöst. Saint-George, der auch Mitglied der Freimaurer war, dirigierte seither das Orchester der Loge de la Parfaite Estime de Société Olympique, das mit 6570 Mitgliedern größte Orchester seiner Zeit. Die „Pariser Sinfonien“ von Joseph Haydn wurde unter seiner Leitung 1784 uraufgeführt.

Im Vorfeld der Französischen Revolution trat Saint-Georges in den Dienst des für seine revolutionäre Gesinnung bekannten Herzog von Orléans ein. 1787 reiste er im Geheimauftrag von Jacques Pierre Brissot, eines Jakobiners und späteren gemäßigten Republikaners, nach London und traf dort mit englischen Abolitionisten zusammen. Als im Mai 1789 die Generalstände einberufen wurden, war auch Saint-Georges dabei. Enttäuscht von der Haltung seines Dienstherrn, dem Herzog von Orléans, zog er 1790 nach Lolle und wurde im Rang eines Hauptmanns in die Garde Nationale aufgenommen. Ab September 1792 befehligte Saint-Georges ein eigenes Kommando von 1.000 Soldaten aus den französischen Kolonien, die „Légion franche de Cavalerie des Américains et du Midi“, einer Einheit, die ausschließlich aus Gens de couleur libres, aus freien „Farbigen“ bestand. Thomas Alexandre Dumas, der Vater des späteren Romanautors Alexandre Dumas, war einer von ihnen.

In den Wirren der Revolution wurde wiederholt versucht, Saint-Georges zum Seitenwechsel zu bewegen, um die Revolutionsregierung in einem Staatsstreich zu stürze. Er weigerte sich immer wieder. In der Zeit der Schreckensherrschaft des Wohlfahrtsausschusses wurde St. Georges im September 1793 denunziert und in der Folge für 18 Monate inhaftiert. Nach seiner Freilassung wurde er aus der Armee entlassen. Saint-Georges verstarb 1797 verarmt in Paris.

Das Leben von Joseph Bologne de Saint-George wurde 2003 in dem kanadischen Fernsehfilm „Le Mozart noir“ verfilmt, in Paris ist eine Straße nach ihm benannt und sein Heimatort auf Basse-Terre ehrt ihn mit einer Straße und einem Denkmal.

Bildquellen:
https://de.wikipedia.org/wiki/Datei:Saint-George_D%27Eon_Robineau.jpg
https://de.wikipedia.org/wiki/Joseph_Bologne,_Chevalier_de_Saint-Georges#/media/Datei:Chevalier_de_Saint-Georges.JPG

 

#GenugJETZT, @markus_soeder, zieh endlich die Notbremse!

PROTESTGEZWITSCHER GEGEN DAS HOCHINZIDENZ-JOJO: TEXTANREGUNGEN WIDER DIE BUND-LÄNDER-UNVERNUNFT

Ich weiß, es ist eigentlich zum Verzweifeln!

Besonnene Experten hatten ja schon seit Wochen gewarnt. Und nun ist alles genau so eingetreten: Die von der britischen Virusmutation B.1.1.7 getriebene dritte Corona-Welle kommt in Deutschland exponentiell in Schwung. In den letzten Tagen ist die Zahl der Neuinfektionen jeweils um mehrere Tausend gegenüber der Vorwoche in die Höhe geschnellt. Der Inzidenzwert, der vor vier Wochen noch bei 60 lag, erreicht in Deutschland nun bereits 85.[1] Die 100er Marke dürfte in der kommenden Woche gerissen werden.

Zuvor hatte die am 3. März einberufene letzte Bund-Länder-Runde entgegen aller Warnungen einen fünfstufigen „Perspektivplan“ verabschiedet, der Lockerungsmöglichkeiten bis zur Inzidenz 100 erlaubte.[2] Das erst nach stundenlangem zähem Ringen formulierte Kompromisspapier war dazu auch noch kompliziert und schlupflochreich gestaltet. Im Netz ernteten die Ministerpräsident:innen und die Kanzlerin dafür keineswegs unverdienten Spott.

Nun sollte aber jeder mit Verstand begabte Zeitgenosse meinen, dass die ganz offensichtlich wenig durchdachten, in den frühen Morgenstunden des 4. März der Presse präsentierten „Öffnungsperspektiven“ inzwischen wieder aus dem Blick geraten. Ging der Fünf-Stufen-Plan doch von der – freilich bereits Anfang März mehr als optimistischen – Grundannahme aus, dass die Coronalage in Deutschland bis Ostern stabil bleiben werde.

“Öffnungsperspektiven” entpuppen sich als Schließungsaussichten: Ostervorfreude auf den Lockdown 3

Denn eins ist doch bereits jetzt frühlingssonnenklar: Nach Weihnachten haben die Bund-Länder-Fehlentscheidungen nun auch Ostern lockdownmäßig verpfuscht. Die Frage ist jetzt nur noch, wie hoch die Inzidenzen vorher noch steigen werden und wie lange wir nachher wieder die Kontakte zu reduzieren haben.

So oder so stehen uns also mehrere Wochen im Oster-Lockdown 3 bevor – die Frage ist jetzt nur noch, wieviele. Frühestens im Mai werden wir hoffentlich wieder befreiter aufatmen können, wenn dann auch diese wieder, wie schon im November, verspätet und deshalb umso mühsamer abgebremste dritte Welle endlich hinter uns liegt und der beginnende Sommer uns zusammen mit Fortschritten beim Impfen hoffentlich weitere föderale Jojospiele erspart.

Lockerungsrausch im Inzidenzanstieg: Selbst an der Notbremse wird herumgeschraubt

Dennoch halten Deutschlands Länderfürst:innen momentan noch unverdrossen an den Lockerungsschritten des „Perspektivplans“ fest – oder wollen sogar noch weitergehen. Denn wie letzte Woche bekannt wurde, möchten Brandenburg und Sachsen-Anhalt die ab einer Inzidenz von 100 vorgesehene, deshalb in einigen Regionen eigentlich bereits zu aktivierende „Notbremse“ lockern.[3] Auch Nordrhein-Westfalen lehnt einen verpflichtenden Bremsautomatismus ab und will im Falle einer Überschreitung der 100er-Schallmauer erst einmal „die Umstände prüfen“.[4] Der gedachte Rettungsmechanismus des Fünf-Stufenplans wird so angesichts einer exponentiell steigenden Virusverbreitung ad absurdum geführt.

Thüringen: ein Dauer-Hotspot brät sich Extrawürste

Schon seit Monaten anders gehen die Uhren in Thüringen. Dort hält sich die Inzidenz nun schon seit November über hundert – aktuell beträgt sie 168. Im Januar hatte Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow noch Aufsehen erregt mit seinem späten, aber getreulichen Eingeständnis, die Lage im vergangenen Herbst falsch eingeschätzt zu haben.[5]

Tätige Reue ist aber offenbar nicht Ramelows Ding. Denn nun lässt er die Inzidenzwerte, die vor einem Monat kurz an der 100er-Marke kratzten, wieder auf neue Rekordwerte klettern, ohne mit „umfassenden Maßnahmen […], die eine effektive Eindämmung des Infektionsgeschehens erwarten lassen“,[6] gegenzusteuern, wie es laut Infektionsschutzgesetz eigentlich vorgeschrieben wäre.

Im Gegenteil: Auch in Thüringen gelten ab dieser Woche wie andernorts zusätzliche Lockerungen im Geschäftsbereich.[7] Und Schulen können sogar bei Höchstinzidenzen weiter geöffnet bleiben, solange die Behörden vor Ort das noch gutheißen. Denn die Landesregierung beschränkt sich lediglich auf eine unverbindliche „Empfehlung“, oberhalb vom Inzidenzwert 150 doch besser zu schließen.[8]

Das Prinzip der lokalen Eigenverantwortlichkeit, auf welches das Green-Zone-Modell der NoCovid-Niedriginzidenz-Strategie setzen möchte, ist in Thüringen so zu einem Art HighCovid-Red-Zone-Konzept pervertiert: Kreise und Städte dürfen seit dem Wochenende selbstverantwortlich (oder -verantwortungslos?) entscheiden, wie weit sie bei der COVID-19-Durchseuchung der Bevölkerung gehen wollen.

Schon erstaunlich, zu was für einem zahnlosen Papiertiger der oben zitierte Paragraph 28a des deutschen Infektionsschutzgesetzes inzwischen verkommen ist – besonders, wenn man bedenkt, dass AfD-Politiker diesen am 18. November eilig durchs Parlament geschleusten Zusatzparagraphen in Brandreden vor dem Reichstag noch als „Ermächtigungsgesetz“ gegeißelt hatten.

Kapitulieren vor all der Unvernunft? So schnell zwitschern wir nicht ab…

Man könnte bei so viel Unvernunft der Politik wirklich verzweifeln!

Ich habe mich aber anders entschieden und beschlossen, mich lieber aktiv für einen öffentlichen Sinneswandel zurück zur Vernunft einzusetzen. Dazu habe ich eine Tweet-Serie verfasst mit Protestnachrichten, in denen ich mich an den bayerischen Ministerpräsidenten und an den Regierungssprecher von der Bundeskanzlerin gewandt habe – Merkel selbst simst zwar gerne, zwitschert aber im Gegensatz zu Söder nicht persönlich.

Bei dem Kurznachrichtendienst mit dem blauen Vögelchen im Logo kann man zwar pro Tweet nur 280 Zeichen schreiben, aber es gibt die Möglichkeit von Tweetserien, um etwas längere Texte zu versenden. Erfreulicherweise sind meine beiden Kurznachrichten-Serien an Söder und Merkel in den vergangenen Tagen auf einen für meine bescheidenen Mikroblogger-Verhältnisse erstaunlich großen Zuspruch gestoßen. Die Anfangstweets kamen nämlich auf jeweils über 10.000 Views. Ich selbst habe zwar nur 875 Follower, aber meine Söder zugezwitscherten Texte wurden über hundert Mal per Retweet von anderen Usern an ihre Follower weiterverbreitet.

Neben solchem Protestgezwitscher gibt es natürlich auch noch viele andere geeignete Formen, um der Öffentlichkeit und/oder den politisch Verantwortlichen seine Meinung kundzutun. So könnt ihr über die Protest-Plattform „WeAct“ sehr einfach eine Online-Petition initiieren und anschließend z.B. via Social Media weiterverbreiten.[9] Oder ihr schreibt Politiker:innen auf Facebook per Kommentar oder Messenger direkt an. Noch nachdrücklicher wäre es, wenn ihr ihnen eine Mail schickt oder ganz förmlich einen Protestbrief per Post versendet.

Für den Fall, dass ihr eine Textvorlage zur Anregung gebrauchen könntet, dürft ihr euch gerne von meinen Tweets inspirieren lassen. Deren Wortlaut stelle ich nachfolgend als Fließtext leicht umgearbeitet zur freien Verfügung.

Verfrühte Lockerungen stoppen, für sichere Bildung sorgen!

Sehr geehrter Herr Ministerpräsident Söder,

in den letzten vier Wochen, zwischen Mitte Februar und Mitte März, ist der Corona-Inzidenzwert für Bayern von 56 auf 90 gestiegen. Die 100er-Marke wird so wohl schon in dieser Woche überschritten. Zeigen Sie deshalb Verantwortung und beenden Sie in Bayern die verfrühten Lockerungen umgehend.

Stoppen Sie insbesondere die für die kommende Woche geplante Öffnung der Schulen. Sichere Bildung, wie das Hashtag-Motto mehrerer Elterninitiativen lautet, muss die Maßgabe sein, was ohne ausgereiftes Testkonzept (Test-Trace-Isolate, TTI) und erhebliche Fortschritte beim Impfen nicht gewährleistet ist.

Nachhaltige Lockerungen sind mit dem differenzierten Niedriginzidenzkonzept NoCovid möglich. Sie könnten in lokal begrenzten „Green Zones“ sogar ohne langen Einheits-Lockdown bald beginnen. Anerkannte Wissenschaftler, so unter anderem auch an der LMU München lehrende Wirtschaftsexperten des ifo-Instituts, stehen hinter dem Konzept – nähere Informationen finden sich auf der folgenden Webseite: https://nocovid-europe.eu.

Herr Ministerpräsident, setzen Sie sich bitte dafür ein, dass Schaden von der bayerischen Bevölkerung abgewendet wird. Das kann aber nur gelingen, wenn in dieser kritischen Phase zu Beginn der dritten Welle die Lockerungen rasch wieder gestoppt werden.

Mit freundlichen Grüßen

https://twitter.com/Muenchen1968/status/1370784455640674305

Die dritte Welle jetzt abfangen und den Stufenplan revidieren!

Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin,

am 3. März hat die Bund-Länder-Corona-Runde die „Öffnungsperspektive in fünf Schritten“ beschlossen, die in den folgenden Wochen Lockerungen auch bei erhöhten Inzidenzwerten zwischen 50 und 100 vorsahen. Nun ist der Inzidenzwert in Deutschland gerade in den letzten Tagen sprunghaft angestiegen und erreicht bereits wieder den Wert von 85. Da sich so offensichtlich der Fünf-Schritte-Plan als Fehler erweisen hat, sollte er rasch wieder revidiert werden.

Die aktuelle Lage erfordert deshalb ein zügiges Vorziehen der nächsten Bund-Länder-Runde. Ein Abwarten bis zum 22. März wäre in der jetzigen Lage einer beginnenden dritten Welle verhängnisvoll. Dies gilt umso mehr, als bereits einige Länder angekündigt haben, die in den „Öffnungsperspektiven“ vorgesehene „Notbremse“ beim Überschreiten der Inzidenz 100 zu ignorieren oder umzuinterpretieren.

Bislang sind Sie, Frau Dr. Merkel, für verantwortungsvolles Handeln in dieser Pandemiekrise eingetreten. Dennoch misslang das Gegensteuern gegen die zweite Welle, was viele zusätzliche Corona-Tote zur Folge hatte. Dieser schwere Fehler vom letzten Herbst darf nicht wiederholt werden.

Noch sind die meisten Menschen der Risikogruppe 2 ungeimpft. Dazu ist inzwischen die Gefahr, die von dem LongCovid-Syndrom ausgeht, auch für jüngere Corona-Patienten wissenschaftlich belegt. Die verfrühten Lockerungen in die beginnende dritte Welle hinein drohen deshalb nochmals ähnlich viel Leid wie im letzten Winter mit sich zu bringen.

Selbst wenn die Krankhauskapazitäten ausreichen, ist eine Strategie der Teildurchseuchung der größtenteils ungeimpften Bevölkerung unverantwortlich. Die Menschen wünschen sich laut Umfragen mehrheitlich ein vorsichtiges Vorgehen und lehnen übereilte Lockerungen ab.

Ein verantwortungsvoller neuer Stufenplan, wie in etwa die Göttinger Physikerin Viola Priesemann vorschlägt, muss bei niedrigeren Inzidenzwerten als der Fünf-Schritte-Plan ansetzen. Nötig ist eine Beschleunigung des Impftempos und ein durchdachtes Testkonzept nach den Grundsätzen Test-Trace-Isolate (TTI).

Nachhaltige Lockerungen sind mit dem differenzierten Niedriginzidenzkonzept NoCovid möglich. Sie könnten in lokal begrenzten „Green Zones“ sogar ohne langen Einheits-Lockdown bald beginnen. Anerkannte Wissenschaftler:innen wie die Braunschweiger Virologin Melanie Brinkmann oder der Chef des Münchener ifo-Instituts Clemens Fuest stehen hinter dem Konzept – nähere Informationen finden sich auf der folgenden Webseite: https://nocovid-europe.eu.

Frau Bundeskanzlerin, setzen Sie sich bitte dafür ein, dass Schaden von der Bevölkerung unseres Landes abgewendet wird. Das kann aber nur gelingen, wenn in dieser kritischen Phase zu Beginn der dritten Welle die Lockerungen gestoppt werden.

Mit freundlichen Grüßen

Und jetzt seid ihr dran!

Wer ähnlicher Meinung ist, darf sich gerne für entsprechende Protestnachrichten bei meinen Tweets oder den obigen beiden Briefvorlagen bedienen. Ich erhebe kein Copyright – auch Copy&Paste in Guttenbergscher Manier ist erlaubt, wenn es nur dem guten Zweck dient. Hauptsache, es ändert sich bald etwas an diesem verhängnisvollen Hineinrennen in die dritte Welle.

Denn für den Fall, dass es so ungebremst nach „Perspektivplan“ weitergeht, werden uns die schlimmen Zustände wie an Weihnachten noch mal zu Ostern drohen. Und das wollen wir doch alle nicht.

Also, auf geht’s, schreibt Protestnachrichten an Angela Merkel, Markus Söder, andere Ministerpräsident:innen oder Politiker:innen eurer Wahl! Sehr wirkungsvoll kann es beispielsweise auch sein, sich an die lokal Verantwortlichen vor Ort, etwa die Bürgermeisterin oder den Gesundheits- oder Bildungsdezernenten oder an die Abgeordnete im Wahlkreis zu wenden. Denn die Lokalprominenz wird sich mehr als die Bundeskanzlerin verpflichtet fühlen, euch auch persönlich eine Antwort zu geben. Am Besten wäre es, wenn ihr dabei in eurer Nachricht gezielt auf die Verhältnisse bei euch vor Ort eingeht.

Lassen wir also mit möglichst vielen Protestnachrichten die politisch Verantwortlichen in den nächsten Tagen spüren, dass sie mit der derzeitig realisierten Corona-Politik eines gefährlichen Hochinzidenz-Jojo aus verfrühten Lockerungen sowie verspäteten und halbherzigen Lang-Lockdowns auf Widerstand stoßen. Die in dem Bund-Länder-Perspektivplan vom 3./4. März vorgesehene Notbremse muss jetzt umgehend und wirkungsvoll gezogen werden – je eher, desto besser.

Sicher scheint es fast zum Verzweifeln, aber zum Aufgeben ist es doch noch zu früh!

Anmerkungen:

[1] Die in diesem Beitrag genannten Zahlen zu COVID-19 sind, soweit nicht anders vermerkt, sämtlich aus dem Coronavirus-Monitor der Berliner Morgenpost entnommen (Stand 15.3.2021, 13 Uhr): https://interaktiv.morgenpost.de/corona-virus-karte-infektionen-deutschland-weltweit. Als Datenquelle werden hier angegeben: Johns Hopkins University CSSE (internationale Daten von WHO, CDC (USA), ECDC (Europa), NHC, DXY (China), Risklayer/Karlsruher Institut für Technologie (KIT), Meldungen der französischen Ämter und der deutschen Behörden (RKI sowie Landes- und Kreisgesundheitsbehörden).

[2] https://www.bundesregierung.de/breg-de/themen/coronavirus/fuenf-oeffnungsschritte-1872120.

[3] Die Gefahr, die Notbremse zu spät zu ziehen, ZDFheute 9.3.2021, https://www.zdf.de/nachrichten/politik/corona-notbremse-inzidenz-100.html.

[4] Corona-Infektionen steigen – NRW hält ungebremst an Lockerungen fest, tagesschau 13.3.2021, https://www.tagesschau.de/regional/nordrheinwestfalen/wdr-story-39313.html.

[5] „Die Kanzlerin hatte Recht, und ich hatte Unrecht“, in: FAZ 7.1.2021, https://www.faz.net/aktuell/politik/inland/bodo-ramelow-gesteht-fehler-im-kampf-gegen-corona-17135034.html.

[6] So der Wortlaut von § 28a IfSG hinsichtlich der zu ergreifenden Maßnahmen bei Überschreitung des Grenzwertes von 50 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner innerhalb einer Woche.

[7] Kosmetikstudios, Solarien, Kinderschuh-Anbieter öffnen, insuedthueringen.de 15.3.2021, https://www.insuedthueringen.de/inhalt.thueringen-neue-corona-verordnung-bibliotheken-und-solarien-oeffnen.3ab4c1ff-6eb9-42a5-8dfb-7276df1c059a.html.

[8] Schulen auf oder zu? Landkreise und kreisfreie Städte entscheiden nun selbst, mdr Thüringen 13.3.2021, https://www.mdr.de/thueringen/landkreise-entscheiden-schulen-offen-geschlossen-100.html.

[9] https://weact.campact.de/.

#NoCovid: Eine australische Corona-Strategie findet ihren Weg nach Deutschland

Wie müde sind wir alle von diesem Winter-Lockdown! Und doch befindet sich Deutschland trotz momentaner Besserung der Coronalage schon wieder am Beginn einer dritten, diesmal von neuen Virusmutationen getriebenen COVID-19-Welle, die es abzufangen gilt. Statt ersehnter Lockerungen stehen uns also weitere Wochen der landesweiten Kontaktbeschränkungen bevor. Doch geht es auch anders? NoCovid heißt eine alternative Strategie, die auf regional begrenzte Corona-befreite „Grüne Zonen“ setzt. Mit ihr soll auf der Ebene der Städte und Landkreise ein nachhaltiger Weg aus dem Lockdown-Jojo gefunden werden, das wir nun seit Monaten erleben. Aber welche Köpfe stecken eigentlich hinter diesem neuen Masterplan? Was bedeutet er konkret? Und kann NoCovid überhaupt im dicht bevölkerten Mitteleuropa funktionieren?

Deutschland Ende Februar 2021: Wenngleich die Vorfrühlingssonne seit Tagen das Land verwöhnt, bleiben die Aussichten für die kommenden Monate trübe. Ein Jahr hat die COVID-19-Pandemie das Land schon im Griff, und aufgrund des Schneckentempos bei der Ende Dezember begonnenen Corona-Impfkampagne wird sich daran 2021 wohl nur sehr langsam etwas ändern.

Harter Shutdown, Sommerfreiheiten und verpatzter Lockdown 2 – ein wechselvolles Jahr der Corona-Bekämpfung im Rückblick

Dabei war doch die erste Corona-Welle im vergangenen Frühjahr mit einem harten Shutdown kurz und erfolgreich bekämpft worden. Und darauf folgte ein halbwegs erträglicher Sommer mit einer relativ geringen Virusverbreitung – unter Maßgabe von Abstands- und Hygieneregeln konnte sich das öffentliche Leben so zwischen Juni und September zu einem Gutteil wieder normalisieren. Doch als im Herbst, wie von Epidemiologen vorhergesagt, die Zahl der Neuinfektionen wieder stieg, missriet die Bekämpfung der zweiten Corona-Welle. Erst warteten die politisch Verantwortlichen zu lange damit, Kontakteinschränkungen zu verhängen. Dann wurden – was sich im Nachhinein als der verhängnisvollste Fehler des Jahres herausstelle – zu spät die nur unzureichend wirksamen Maßnahmen des „Lockdown light“ zum „Lockdown 2“ verschärft. So stieg die Infektionsrate im Dezember bis auf eine landesweite Inzidenz von beinahe 200. Fast 60.000 Menschen fielen der in dieser Schwere eigentlich für Deutschland vermeidbar gewesenen zweiten Corona-Welle zum Opfer.

Nach mehr als zwei Monaten im „Lockdown 2“ hat sich die Verbreitung von COVID-19 inzwischen zum Glück wieder verringert. Mit durchschnittlich knapp 8000 Neuinfektionen pro Tag und einem Inzidenzwert von 67 liegen die Zahlen aber noch deutlich über der angestrebten Marke:[1] Die Regierenden in Bund und Ländern hatten zunächst als Zielwert eine Inzidenz von 50 erkoren, dann aber auf der vorletzten Ministerpräsidentenkonferenz auf 35 abgesenkt. Eine Zahl von wöchentlich maximal 35 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner ist als Schwellenwert auch in dem 2020 geänderten Bundesinfektionsschutzgesetz enthalten, wobei diese Festsetzung nicht unumstritten ist. Denn von Experten wird bezweifelt, dass eine vollständige Rückverfolgung von Infektionsketten bei einer so hohen Inzidenz möglich ist.[2]

Verfrühte Lockerungen trotz erhöhter Inzidenzen: Lockdownmüdigkeit und Nervenflattern

Die Verschärfung des Ziel-Inzidenzwerts auf 35 hat mit der geänderten Gefahrenlage zu tun, die sich aus der Verbreitung von neuen, aus Großbritannien und Südafrika direkt oder über Nachbarländer nach Deutschland eingeschleppten Virusmutationen ergibt. Denn der Ansteckungsgrad der fraglichen Mutationen B.1.1.7 und B.1.351 wird im Vergleich zum bislang noch in Deutschland vorherrschenden Wildtyp von SARS-CoV-2 als höher eingestuft. Nachdem der rückläufige Trend bei den täglichen Neuinfektionszahlen zum Stillstand gekommen ist und sich sogar wieder ins Gegenteil zu verkehren beginnt, wächst die Sorge vor einer neuen, nun vor allem von der britischen Mutation getriebenen Corona-Welle.

Insofern muss es erstaunen, dass ungeachtet dessen Forderungen nach Lockerungen des „Lockdowns 2“ die Debatten weiter bestimmen. Erste Schritte waren bereits auf der letzten Ministerpräsidentenkonferenz verabredet worden: Zunächst wurden in fast allen Bundesländern die Grundschulen und Kitas vollständig oder mit verkleinerten Gruppen im Wechselbetrieb geöffnet. Morgen, am 1. März, werden dann bundesweit Friseursalons wieder öffnen. Vor der nächsten, eigentlich für die Koordinierung weiterer Schritte vorgesehenen Bund-Länder-Runde in der kommenden Woche preschen nun einige Ministerpräsident:innen mit weiteren Lockerungen vor: Unterricht für Abschlussklassen, Öffnung von Kosmetik- und Nagelstudios, von Blumenläden, Garten- oder Baumärkte, von Zoos oder Museen sowie die Zulassung von Freischankflächen – vieles ist im Gespräch, anderes regional schon in die Wege geleitet.[3] Irritierend daran ist, dass das reale Infektionsgeschehen vor Ort nicht immer das entscheidende Kriterium zu sein scheint, sondern eher das Nervenflattern der Länderchefs. So öffneten ausgerechnet zwei Bundesländer mit überdurchschnittlich hohen Inzidenzwerten mit als Erste ihre Grundschulen für den Vollbetrieb: Sachsen (Inzidenz: 90) und Thüringen, mit 129 republikweiter Inzidenz-Spitzenreiter.

Vorbild Österreich? Pandemiepopulismus nach Art des Sebastian Kurz

Freilich ist die in der Bevölkerung wie unter den Regierenden um sich greifende Lockdownmüdigkeit nach den monatelangen Kontakteinschränkungen verständlich. Fatal wäre es jedoch, wenn das derzeitige Motivationstief dazu führen würde, dem in die dritte Welle startenden Virus freien Lauf zu lassen. Rechte Populisten – Trump und Bolsonaro – waren die ersten, die sich letztes Jahr diese Politstrategie zu Eigen gemacht haben. „Mit dem Virus leben“ wurde gerne als Überschrift dafür gewählt, wenngleich es ehrlicherweise „Mit dem Virus leben und sterben“ hätte heißen müssen. Verantwortungsloser Pandemiepopulismus, der mit dem Leben der Risikogruppen Roulette spielt, findet sich aber auch bei Rechtsliberalen oder Sozialdemokraten, wie die Beispiele der Niederlande und Schwedens gezeigt haben. Aktuell wandelt ein junger Shootingstar der konservativen Mitte, Österreichs Kanzler Sebastian Kurz, auf diesem bequem erscheinenden Pfad: Dass bei Inzidenzen von über 100 schon Anfang Februar wieder Schluss mit dem Winter-Lockdown der Alpenrepublik war, begründete Kurz mit dem wachsenden Unmut in der Bevölkerung: “Egal, ob in Österreich oder in Deutschland oder anderswo in Europa: Jedem reicht’s schon langsam.” Und den inzwischen gemessenen Anstieg der Neuinfektionen (aktuelle Inzidenz: 156) versucht Kurz folgendermaßen schönzureden: Immerhin sei die Zunahme doch „langsamer als zum Beispiel in Irland oder Portugal, wo die Zahlen ja explosionsartig gestiegen sind.“[4]

Derartigen Pandemiepopulismus wird man Angela Merkel nicht vorwerfen können. Die Kanzlerin möchte möglichst keine weiteren Lockerungen zulassen, bis eine ausreichende Eindämmung des Infektionsgeschehens erreicht ist. Fraglich ist nur, ob sich dieser Kurs, der im Januar unter dem Eindruck von täglich tausend Coronatoten Konsens war, immer noch durchsetzen lässt. Denn zweifellos kann wirksamer Seuchenschutz in einer Demokratie nur schwer gegen den erklärten Willen eines Großteils der Bevölkerung durchgedrückt werden.

Vorbild Australien: Ist die Zeit reif für einen Strategiewechsel in Deutschland?

Ein Ausweg aus dieser schwierigen Lage könnte ein mutiger Schritt sein, den Australien bereits im vergangenen Sommer gegangen ist: Der Strategiewechsel von der bloßen Eindämmung der massenhaften Verbreitung von SARS-CoV-2 zu seiner weitgehenden Eliminierung.[5] Es mag zunächst widersprüchlich klingen, ausgerechnet in der jetzigen Lage diese unter dem Twitter-Hashtag #NoCovid bekannt gewordene Strategie ins Spiel zu bringen. Doch eröffnet sie aufgrund ihrer Fokussierung auf Fortschritte in regionalen oder lokalen Einheiten eine Perspektive für eine nachhaltige Normalisierung des öffentlichen Lebens und damit für ein Ende des ermüdenden Lockdown-Jojos.

Während in Australien bereits bald nach der ersten Welle dieser Strategiewechsel vollzogen wurde, wird eine derartige Vorgehensweise in Europa erst seit Ende des vergangenen Jahres vermehrt diskutiert. Zwar war schon in den Monaten davor immer wieder über die Erfolge in der Pandemiebekämpfung berichtet worden, die Länder des Pazifikraums vorzuweisen haben. Zumeist richtete sich die Perspektive aber auf Südostasien und es überwog dabei der Tenor, dass Rezepte aus Staaten wie China, Taiwan oder Korea auf die Gegebenheiten in Europa schwer übertragbar seien.

Der alte Kontinent entdeckt pandemisch den Pazifik neu: der Aufruf im „Lancet“ vom 18.12.2020

Am 18. Dezember lancierten dann aber führende europäische Corona-Experten einen Aufruf, in dem sie unter dem Eindruck des Europa schwer beutelnden Corona-Winters einen radikalen Strategiewechsel bei der Bekämpfung der Pandemie nach Vorbild der Länder im Pazifikraum forderten. Von einer zwanzigköpfigen Autorengruppe, zu der die Physikerin Viola Priesemann, die Virologin Melanie Brinkmann und der am ifo-Institut forschende Makroökonom Andreas Peichl gehörten, wurde hierzu in der Medizinzeitschrift „The Lancet“ ein Papier unter der Überschrift „Calling for pan-European commitment for rapid and sustained reduction in SARS-CoV-2 infections“ verfasst, das über 300 Wissenschaftler:innen unterstützten. Ihren Namen unter den Aufruf setzten unter anderen der Charité-Virologe Christian Drosten, RKI-Präsident Lothar Wieler, der Soziologe Armin Nassehi, der Leiter des Ifo-Instituts Clemens Fuest, der System-Immunologe Michael Meyer-Hermann und der Medizinphysiker Matthias Schneider.[6] Gefordert wurde in dem Text eine nachhaltige Reduzierung der COVID-19-Fallzahlen in Europa. Aufgrund der Gefährlichkeit von SARS-CoV-2 reiche es nicht aus, sich vorrangig auf die Belastungsgrenzen der Gesundheitssysteme zu fokussieren. Vielmehr müsse zur Rückgewinnung der Kontrolle über die Virusverbreitung ein niedriger Grenzwert im Bereich einer Wocheninzidenz von nur zehn Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner angestrebt werden.

Die Grundidee dieses Konzepts stammte dabei aus einem Lancet-Paper, das fünf Wochen zuvor unter Mitwirkung von Viola Priesemann erschienen war.[7] Darin wurde anhand von Großbritannien, das gerade von der zweiten COVID-19-Welle heimgesucht wurde, diskutiert, welche Bausteine für eine nachhaltige Pandemie-Strategie nötig sein, mithilfe derer dauerhaft die Kontrolle über das Infektionsgeschehen wiedererlangt werden könne.

Wesentliche Eckpunkte der NoCovid-Strategie waren so bereits Ende 2020 im „Lancet“ formuliert worden. Medienwirksam aufgegriffen wurden diese Ideen dann bereits am 12. Januar von einer Initiative, die sich für einen „solidarischen ZeroCovid-Strategiewechsel“ einsetzte und dafür mit einer europaweiten Online-Petition warb. Unter dem Slogan „#ZeroCovid“ fand sie auf der Plattform „WeAct“ rasch gut 100.000 Unterstützer. Die Autor:innen dieses Aufrufs, zu dessen Erstunterzeichnenden neben Beschäftigten des Gesundheitssektors auch prominenten Namen aus der Kultur, den Medien und den Hochschulen zählten, formulierten als Zielsetzung, „die Ansteckungen auf Null zu reduzieren“, wozu ein Shutdown als „solidarische Pause von einigen Wochen“ nötig sei. Im Anschluss daran müssten niedrige Fallzahlen „mit einer Kontrollstrategie stabil gehalten und lokale Ausbrüche sofort energisch eingedämmt werden“.[8]

#NoCovid will nicht #ZeroCovid sein: das Konzept der Wissenschaftlergruppe um Melanie Brinkmann und Clemens Fuest

Wenige Tage später meldete sich eine vierzehnköpfige Gruppe von Wissenschaftler:innen mit einem neuen Papier öffentlich zu Wort. Fünf von ihnen hatten bereits den Lancet-Aufruf vom 18.12. mitverfasst oder unterstützt, nämlich die Virologin Brinkmann, der System-Immunologe Meyer-Hermann, der Medizinphysiker Schneider sowie die ifo-Ökonomen Fuest und Peichl. Zusätzlich unterstützt wurden sie von weiteren Professor:innen anderer Fachrichtungen wie etwa dem Soziologen Heinz Bude, der Politologin Elvira Rosert oder dem Pädagogen Menno Baumann. Die 14 Wissenschaftler:innen versuchten sich bereits durch die Verwendung eines neuen Hashtags, nämlich #NoCovid, später noch ergänzt durch #YesToNoCovid, in den sozialen Medien von dem #ZeroCovid-Aufruf sprachlich deutlich abzugrenzen. Das hatte zum einen parteipolitische Gründe, da der #ZeroCovid-Aufruf überwiegend von linksorientierten Kräften unterstützt wurde, während die #NoCovid-Initiatoren lagerübergreifend Verbündete finden wollten. Zum anderen lehnten die #NoCovid-Autor:innen einen nochmaligen europaweiten harten Shutdown, wie er von #ZeroCovid gefordert wurde, aufgrund der hohen volkswirtschaftlichen Kosten ab.

Angelehnt an die praktischen Vorbilder in Australien und Neuseeland veröffentlichte die Autorengruppe um Melanie Brinkmann und Clemens Fuest so in zwei Schritten ihre Ideen zu einer #NoCovid-Strategie für Deutschland. Am 18. Januar publizierte sie zunächst ein Rahmenpapier unter dem Titel „Eine neue proaktive Zielsetzung für Deutschland zur Bekämpfung von SARS-CoV-2“, dem am 10. Februar dann eine ausführlichere Darstellung von „Handlungsoptionen“ folgte.[9]

NoCovid basiert nicht auf der Ausrottung des Virus, sondern auf einer kontrollierbaren Niedriginzidenz

Dass die #NoCovid-Gruppe in ihrem Grundansatz mit der von ihnen kritisierten #ZeroCovid-Initiative durchaus kompatibel ist, zeigt sich allerdings bereits in der Formulierung ihres Kerngedankens:

„Unsere Strategie umfasst eine Abkehr von der bisher verfolgten Eindämmungsstrategie (“mit dem Virus leben”). Wir schlagen Ideen und Ansätze für eine proaktive lokale Eliminationsstrategie vor, die das Ziel einer nachhaltig niedrigen Inzidenz – im Idealfall null – verfolgt.“[10]

Als konkreten Inzidenz-Grenzwert greifen die Autor:innen dabei die Zahl auf, die schon in dem Lancet-Aufruf vom 18. Dezember genannt war, also maximal zehn Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner wöchentlich. Entscheidend sei aber vor allem, dass es zu keiner unkontrollierten Virenverbreitung mehr komme. Solange bei Neuinfektionen eine Nachverfolgung möglich bleibe und Infizierte sowie ihre Kontaktpersonen unter Quarantäne gestellt bzw. zügig getestet werden, gelten sie auch im NoCovid-Modell noch als unproblematisch. Es geht also nicht um eine Ausrottung des Virus, sondern um die Rückgewinnung der vollständigen Nachverfolgungsmöglichkeit, die nach Einschätzung der Wissenschaftlergruppe aber nur bei einem sehr niedrigen Inzidenzwert möglich ist.

Weitgehende Eliminierung des Virus in regional begrenzten Zonen: So könnte NoCovid praktisch vor Ort funktionieren

Eine Inzidenz von unter 10 bundesweit zu erreichen, erscheint allerdings schwierig, wenngleich die Sommermonate 2020 gezeigt haben, dass das nicht unmöglich ist. Jedoch geht es im NoCovid-Modell bei der Erreichung eines Zustands der weitgehenden SARS-CoV-2-Elimination nicht gleich um das ganze Land, sondern um kleinere politisch-geografisch zusammengehörende Zonen – für Deutschland bietet sich hierzu die Ebene von Landkreisen, größeren Städten oder Metropolregionen an. In jeder dieser Zonen soll zunächst das Inzidenzziel von 10  erreicht werden. Ist das geschafft, gilt eine Zone als „gelb“ und kann mit vorsichtigen Lockerungen von Kontakteinschränkungen beginnen.

Sofern dieser Zustand über zwei Wochen zu keinen COVID-19-Neuinfektionen unbekannten Ursprungs führt, wechselt der Status der Zone auf „grün“. Nun kann unter Maßgabe von verbesserten Schutzmaßnahmen (AHAL-Regeln sowie insbesondere intensivierte Testroutinen) das öffentliche Leben wieder schrittweise normalisiert werden – ähnlich, wie wir es im vergangenen Sommer erlebt haben.

Dithmarschen und Kaufbeuren wären die ersten Gelbe Zonen

Aktuell gäbe es in Deutschland allerdings nur zwei Kreise, die sich aufgrund von Inzidenzen unter 10 umgehend zur Gelben Zone erklären und mit vorsichtigen Lockerungen beginnen könnten: Dithmarschen an der Nordseeküste und Kaufbeuren in Bayerisch-Schwaben. Dazu kämen aber noch fünf weitere Kreise, die diesem Ziel bereits so nahe wären, dass es dort mit etwas zusätzlichem Einsatz schon binnen ein oder zwei Wochen erreichbar schiene, und zwar in Kaiserslautern (7-Tages-Inzidenz 11), Donau-Ries und Lüchow-Dannenberg (beide 12), Schweinfurt (15) sowie Kusel (19).[11]

Weitere Gebiete mit Inzidenzen im niedrigeren zweistelligen Bereich (unter dem Wert 35 liegen momentan 56 Kreise, viele davon im Süden der Republik) könnten es ebenfalls innerhalb von wenigen Wochen schaffen, nicht mehr als im Lockdown befindliche „rote Zone“ gelten zu müssen. Nötig wären hier vermehrte gemeinsame Anstrengungen zur Senkung des R-Wertes – dazu gehört neben Kontakteinschränkungen und einer konsequenten Umsetzung der AHAL-Regeln natürlich auch besonders effektive Test-, Tracing und Isolationsstrategien (TTI) sowie eine möglichst zügige Erhöhung der Impfrate.

Denn genau darauf zielt der NoCovid-Ansatz ab: Dass überschaubare regionale Einheiten ein klares Ziel vor Augen haben, um Bürger:innen und politisch Verantwortlichen verstärkt zu motivieren, alle verfügbaren Möglichkeiten zur Senkung und zur vollständigen Kontrolle des Neuinfektionsgeschehens zu ergreifen, bis der Status einer Grünen Zone erreicht ist.

NoCovid contra Sisyphos: die Kontrolle der Mobilität zwischen Roten und Grünen Zonen

Neben der Mobilisierung der Pandemiebekämpfung in regional überschaubare Einheiten ist die Kontrolle der Mobilität ein wesentlicher Bestanteil des NoCovid-Modells. Denn um die in einer Grünen Zone erreichte vollständige Kontrolle des Neuinfektionsgeschehens zu erhalten, gilt es zu vermeiden, dass infizierte Personen von außen das Virus wieder neu in die Grüne Zone einschleppen. Personenverkehr aus Roten Zonen hinein in Grüne Zonen kann deshalb nicht schrankenlos zugelassen werden – vor allem Tests, aber auch Quarantänemaßnahmen werden hier zur Kontrolle angewendet.

Sofern Grüne Zonen aneinandergrenzen, kann jedoch auf Mobilitätsbeschränkungen verzichtet werden. Damit ist ein Anreiz für Anstrengungen gegeben, den Bereich der Grünen Zonen schrittweise zu größeren zusammenhängenden Gebieten auszuweiten.

Dass derartige Mobilitätsbeschränkungen wirksam sein können, hat übrigens Mecklenburg-Vorpommern im September und Oktober 2020 einige Woche lang uns vorgeführt. Denn während die Inzidenzen deutschlandweit bereits Anfang September wieder spürbar zu steigen begannen, wurde im hohen Norden die 10er-Inzidenz erst Mitte Oktober überschritten – in den Küstenlandkreisen sogar noch später. Geholfen hatten hier offenbar auch die von der Landesregierung zeitweise verhängten Mobilitätsbeschränkungen und Beherbergungsverbote.

Pandemiebekämpfung mit Anreizen für die lokale Eigenverantwortlichkeit

Zusammengefasst ist NoCovid also ein Lösungsansatz für die Pandemiekrise, der statt einer Eindämmung durch landesweite „Lockdowns“ nun die weitgehende und nachhaltige Eliminierung des Virus mittels einer lokal koordinierten und differenzierten Zugriffsweise sowie durch eine Kontrolle der Mobilität zwischen Regionen mit unterschiedlich hohem Infektionsgeschehen erreichen möchte. Der Weg von der „Roten Zone“ zur „Grünen Zone“ erscheint hart, doch besteht danach die Aussicht, eine schrittweise Normalisierung des Lebens zumindest innerhalb der eigenen Zone wieder ermöglichen zu können – und das relativ unabhängig vom Seuchengeschehen anderswo in der Republik.

Sollte es in einer „Corona-befreiten“ Zone aber doch zu nicht mehr nachverfolgbaren Neuausbrüchen kommen, muss als Gegenmaßnahme örtlich begrenzt zügig reagiert werden („lokales Ausbruchsmanagment“[12]). Sofern ein intensiviertes TTI-Regime nicht mehr ausreicht, kann aber mit einem nur auf die betroffene Zone begrenzten Kurz-Lockdown, wie Beispiele in Australien gezeigt haben, die Situation rasch wieder unter Kontrolle gebracht werden, ohne dass deswegen die Nachbarregionen automatisch mitbeeinträchtigt werden.

Abschied vom Fokus auf die national gesteuerte Seucheneindämmung?

Von der Grundidee erscheint „NoCovid“ als ein bestechend einfaches Modell, das aber mit zwei in Europa vorherrschenden Vorstellungen der Pandemiebekämpfung bricht: Einerseits geht es nicht mehr nur um eine „Eindämmung“ des Virus, für die die Leistungsfähigkeit des Gesundheitssystems eine maßgebliche Größe ist. Denn dafür ist COVID-19 schlicht zu gefährlich und entwickelt sich zu dynamisch. Andererseits setzt „NoCovid“ nicht mehr auf eine zentral gesteuerte, möglichst stark vereinheitlichte nationale Pandemiebekämpfung, sondern baut auf die Flexibilität und Eigenverantwortung von überschaubaren lokalen Einheiten.

In ihrem zweiten Papier hat die NoCovid-Autor:innengruppe verschiedene „Handlungsoptionen“ in vier „Toolboxen“ unter den Überschriften „Mit Grünen Zonen zu dauerhaften Lockerungen“, „No-COVID Partnership Europe“, „Test – Trace – Isolate (TTI)“ sowie „Wirtschaft und Arbeitsmarkt“ näher beschrieben. Dazu wurde die Veröffentlichung weiterer Papiere mit der Ausarbeitung zusätzlicher „Handlungsoptionen“ in einem Twitter-Account des NoCovid-Projekts angekündigt. Außerdem verweisen die 14 Wissenschaftler:innen darauf, dass für eine Umsetzung des Konzepts die Unterstützung von Experten aus Australien und Neuseeland bereitstehe.

NoCovid ohne Zonen? Die „Stufenpläne ohne Jojo-Effekt“

Neben den Autor:innen der beiden NoCovid-Papers hat sich in der vergangenen Woche noch eine weitere prominente Gruppe von sieben Wissenschaftler:innen mit einem ähnlichen Ansatz unter dem Titel „Stufenpläne ohne Jojo-Effekt“ zu Wort gemeldet. [13] Sechs von ihnen hatten bereits den Aufruf „Calling for pan-European commitment for rapid and sustained reduction in SARS-CoV-2 infections“ vom 18. Dezember unterstützt; Sandra Ciesek, Thomas Czypionka und Viola Priesemann waren sogar Mitautoren dieses Papiers gewesen. Auch diese Gruppe rät in ihrem Debattenbeitrag, zumindest „mittelfristig“ eine Inzidenz von 10 anzupeilen. Dazu warnt sie vor verfrühten Lockerungen und den Negativfolgen einer „Stagnation auf zu hohem Niveau“. Insgesamt schlagen Ciesek und ihre Kolleg:innen eine „Strategie einer lokalen, differenzierten Eindämmung vor, bei der man akzeptiert, dass es lokal zu kleinen Ausbrüchen kommen kann, die Inzidenz aber trotzdem konsequent gesenkt und niedrig gehalten wird.“ Trotz der Nähe zum NoCovid-Konzept fehlt allerdings ein direkter Verweis darauf. Ein wesentlicher Unterscheidungspunkt der „Stufenpläne ohne Jojo-Effekt“ zu #NoCovid ist der Verzicht auf ein regionales Zonenmodell mit Mobilitätsbeschränkungen. Offenbar ist das im Vergleich zu den beiden NoCovid-Texten wesentlich kürzere Papier, an dem auch der Münchner Soziologe Nassehi mitgewirkt hat, als Rahmenempfehlung an die Politik für die Gestaltung eines Stufenplans gedacht, der für die kommende Woche erwartet wird.

Viel mediale Aufmerksamkeit für #NoCovid, aber Zweifel an der Umsetzbarkeit

Darüber hinaus ist in den letzten Wochen eine Vielzahl an Medienbeiträgen über „NoCovid“ erschienen, wobei das Konzept häufig wohlwollend kommentiert wird, aber dennoch auf Zweifel hinsichtlich seiner Umsetzbarkeit stößt. Ein gutes Beispiel hierfür ist ein inzwischen über 700.000 Mal abgerufenes YouTube-Video der Wissenschaftsjournalistin Mai Thi Nguyen-Kim. Unter dem Titel „Versöhnung“ stellt sie darin in wenigen Minuten die Grundideen der NoCovid-Strategie schlüssig dar, kommt aber am Ende doch zu einem eher resignativen Résumé: „Aber so emotional, so hitzköpfig, so feindselig, wie momentan diskutiert wird… Manchmal glaube ich, allein deswegen könnte No-Covid nicht funktionieren, weil die Strategie voraussetzt, dass wir alle an Bord sind.“[14]

Zwischen Zustimmung und Zaudern: Reaktionen aus der Politik

Nicht so viel anders wie Mai Thi Nguyen-Kim klang vor zweieinhalb Wochen auch der bayerische Ministerpräsident Söder. Im heute-journal erklärte er nach der letzten Bund-Länder-Konferenz, er „wäre schon ein Anhänger einer NoCovid-Strategie“, doch gebe es dafür keine ausreichende Zustimmung unter seinen Amtskolleg:innen.[15] In der Tat hat sich außer ihm bislang sonst kein anderer Länderchef für NoCovid ausgesprochen. Jedoch zeigte der CDU/CSU-Fraktionsvorsitzender Ralph Brinkhaus bei der Bundestagsdebatte über die Beschlüsse der letzten MPK kürzlich Sympathien für eine Zielorientierung an der 10er-Inzidenz.[16] Ähnlich wie er haben auch andere Bundestagsabgeordneten Zustimmung zu Grundgedanken des NoCovid-Konzepts geäußert, so die Gesundheitsexperten von SPD und Grünen, Karl Lauterbach und Janosch Dahmen. Zu den erklärten Unterstützern der Idee zählt außerdem der bayerische Linken-Bundestagsabgeordnete Andreas Wagner.[17] Auf kommunaler Ebene sympathisieren zwei rheinländische Metropolenchefinnen öffentlich mit NoCovid: die den Grünen nahestehenden Oberbürgermeisterin von Köln, Henriette Reker[18] und ihre grüne Bonner Amtskollegin Katja Dörner.[19]

Wenngleich der Kreis der Unterstützer:innen aus der Politik für NoCovid noch recht überschaubar ist, finden sich so doch prominente Stimmen darunter. Aber auch wenn es hinter vorgehaltener Hand sogar im Kanzleramt Sympathien für diese Idee geben sollte (denn immerhin gehört NoCovid-Autorin Melanie Brinkmann zu den von Merkel regelmäßig zu Rate gezogenen Virologinnen), ist auf dem Bund-Länder-Gipfel der kommenden Woche hier wohl kein Durchbruch zu erwarten.

Eine Chance als regionaler Modellversuch?

Vielmehr scheint es am ehesten denkbar, dass NoCovid beispielhaft von einzelnen Regionen umgesetzt werden könnte. Hierzu bräuchte es als rechtlichen Rahmen aber zumindest die Zustimmung einer deutschen Landesregierung, denn nur so könnte wohl ein Modellversuch mit den notwendigen Sonderbestimmungen vor Ort rechtssicher starten. Angesichts des öffentlichen Votums von Reker und Dörner würde sich als Erstes die Metropolregion Köln/Bonn anbieten, doch steht dem der Lockerungskurs der schwarz-gelben NRW-Landesregierung entgegen.[20]

Erinnern wir uns aber zurück an den Anfang der Corona-Krise im vergangenen März. Da war es Markus Söder, der in Bayern mit der Verhängung eines Lockdowns vorpreschte und so den zögernden Armin Laschet als Wortführer der Bremser allzu strenger Kontakteinschränkungen zum Einlenken zwang. Damit legte Söder den Grundstein für seinen demoskopischen Höhenflug in bis dato ungeahnte Beliebtheitswerte. Bis jetzt ist es sein Erfolgsrezept geblieben, sich im Rennen um die Unions-Kanzlerkandidatur als Gegenpol zu Laschet darzustellen. Was könnte da für den bayerischen Ministerpräsidenten eigentlich näher liegen, als unter seiner Schirmherrschaft einen NoCovid-Modell-Versuch in geeigneten Niedriginzidenz-Landkreisen alsbald zu starten?

Anmerkungen:

[1] Die in diesem Beitrag genannten Zahlen zu COVID-19 sind, soweit nicht anders vermerkt, sämtlich aus dem Coronavirus-Monitor der Berliner Morgenpost entnommen (Stand 28.2.2021, 15 Uhr): https://interaktiv.morgenpost.de/corona-virus-karte-infektionen-deutschland-weltweit. Als Datenquelle werden hier angegeben: Johns Hopkins University CSSE (internationale Daten von WHO, CDC (USA), ECDC (Europa), NHC, DXY (China), Risklayer/Karlsruher Institut für Technologie (KIT), Meldungen der französischen Ämter und der deutschen Behörden (RKI sowie Landes- und Kreisgesundheitsbehörden).

[2] Vgl. Neue deutsche Schwelle, in: Süddeutsche Zeitung 17.2.2021, https://www.sueddeutsche.de/politik/corona-inzidenz-schwellenwerte-50-35-1.5208343.

[3] Mecklenburg-Vorpommern öffnet Gartencenter, Zoos und Nagelstudios, in: Der Spiegel 25.2.2021, https://www.spiegel.de/politik/deutschland/mecklenburg-vorpommern-oeffnet-wieder-baumaerkte-zoos-und-nagelstudios-a-8012c41c-3a61-437a-bb27-73d780c31b49#ref=rss?sara_ecid=soci_upd_wbMbjhOSvViISjc8RPU89NcCvtlFcJ; Söder, der Getriebene, in: Süddeutsche Zeitung 27.2.2021, https://www.sueddeutsche.de/bayern/soeder-corona-oeffnungen-1.5219258.

[4] Kurz erklärt Ausstieg: “Lockdown hat nach sechs Wochen seine Wirkung verloren”, in: Focus 25.2021, https://www.focus.de/politik/ausland/setzt-auf-massentests-kurz-erklaert-ausstieg-lockdown-hat-nach-sechs-wochen-seine-wirkung-verloren_id_13018988.html.

[5] Vgl. hierzu das Zeit-Interview mit dem australische Gesundheitsökonom Stephen Duckett: “Fangt einfach an”, in: Die Zeit 25.2.2021, https://www.zeit.de/wissen/gesundheit/2021-02/nocovid-australien-corona-strategie-deutschland-stephen-duckett.

[6] Viola Priesemann u.a., Calling for pan-European commitment for rapid and sustained reduction in SARS-CoV-2 infections, in: The Lancelet 18.12.2020, https://www.thelancet.com/journals/lancet/article/PIIS0140-6736(20)32625-8/fulltext.

[7] Deepti Gurdasani u.a.: The UK needs a sustainable strategy for COVID-19, in: The Lancelet 9.11.2020, https://doi.org/10.1016/S0140-6736(20)32350-3.

[8] „#ZeroCovid. Das Ziel heißt Null Infektionen! Für einen solidarischen europäischen Shutdown“, Online-Aufruf vom 12.1.2021, https://zero-covid.org/.

[9] Menno Baumann u.a., Eine neue proaktive Zielsetzung für Deutschland zur Bekämpfung von SARS-CoV-2, Online-Publikationen vom 18.1.2021 (Rahmenpapier) u. 10.2.2021 (Handlungsoptionen), https://nocovid-europe.eu/assets/doc/nocovid_rahmenpapier.pdf u. https://nocovid-europe.eu/assets/doc/nocovid_handlungsoptionen.pdf.

[10] Ebd., Handlungsoptionen, S. 2.

[11] Inzidenzwerte zu Stadt- und Landkreisen in diesem Absatz entsprechend den Angaben der Webseite „Risklayer“ vom 28.2.2021 (Stand 17.30 Uhr), https://www.risklayer-explorer.com/event/100/detail.

[12] Menno Baumann u.a., Eine neue proaktive Zielsetzung für Deutschland zur Bekämpfung von SARS-CoV-2, Online-Publikationen vom 10.2.2021 (Handlungsoptionen), https://nocovid-europe.eu/assets/doc/nocovid_handlungsoptionen.pdf, S. 2.

[13] Sandra Ciesek u.a., Stufenpläne ohne Jojo-Effekt, Online-Publikation vom 19.2.2021, https://www.mpg.de/16463455/strategie-corona-covid-19; leicht geändert und gekürzt erschien der Text unter der Überschrift „Eine Perspektive ohne Auf und Ab“ bereits zwei Tage zuvor als Gastbeitrag in der „Zeit“: https://www.zeit.de/2021/08/corona-strategie-lockdown-stufenplan-wissenschaftler-lockerungen/komplettansicht.

[14] maiLab (d.i. Mai Thi Nguyen-Kim), Versöhnung, https://www.youtube.com/watch?v=bE315x4Vbf0 (25.2.2021).

[15] “Können dann die Zeitpläne etablieren”, https://www.zdf.de/nachrichten/heute-journal/koennen-dann-die-zeitplaene-etablieren-100.html (10.2.2021); Söder will „No-Covid“-Strategie mit neuer Ampel für Bayern – doch der Widerstand ist zu groß, in: Münchner Merkur 18.2.2021 (aktualisierte Fassung), https://www.merkur.de/politik/soeder-coronavirus-ampel-bayern-no-covid-strategie-ueberblick-90201317.html.

[16] Einer erklärt’s der Regierung, in: Der Spiegel 11.2.2021, https://www.spiegel.de/politik/deutschland/angela-merkel-und-ralph-brinkhaus-zur-corona-politik-einer-erklaert-s-der-regierung-a-249b34cb-9441-4700-a7fb-192b05a499b6.

[17] Brief an Ministerpräsident Söder: MdB Wagner wirbt für No-Covid-Strategie, https://andreaswagner.die-linke-bayern.de/nc/im-bundestag/reden/detail/news/offener-brief-an-ministerpraesident-soeder-mdb-andreas-wagner-fordert-mehr-busse-fuer-schuelerbefoer/(8.2.2021).

[18] Oberbürgermeisterin Henriette Reker befürwortet No-Covid-Strategie, https://www.koeln.de/koeln/nachrichten/lokales/koelns-oberbuergermeisterin-henriette-reker-befuerwortet-no-covid-strategie_1168096.html (17.2.2021).

[19] Bonner OB Dörner unterstützt „No-Covid-Strategie“, in: Generalanzeiger 17.2.2021, https://ga.de/bonn/stadt-bonn/bonn-ob-doerner-unterstuetzt-no-covid-strategie_aid-56317457?utm_source=twitter&utm_medium=referral&utm_campaign=share.

[20] Corona in NRW: Konkreter Zeitplan für Lockerungen liegt schon vor, in: Westfälischer Anzeiger 27.2.2021, https://www.wa.de/nordrhein-westfalen/corona-nrw-lockdown-lockerungen-handel-sport-kultur-armin-laschet-christof-rasche-90218993.html.

Für ihre bewährte Korrekturhilfe als Blogartikel-Erstleserin danke ich Anja Müller (München).

Martin Dibobe – vom Häuptlingssohn zum Zugführer

1896, im Schicksalsjahr von Martin Dibobes Leben, war seine Heimat Kamerun seit zwölf Jahren deutsche Kolonie. Reichskanzler Bismarck hatte im März 1884 das Gebiet im Knie von Afrika zum Protektorat erklärt und den Afrikaforscher und bisherigen deutschen Generalkonsul in Tunis, Gustav Nachtigal, zum kaiserlichen Kommissar für die Westküste Afrikas bestimmt. Im Juli 1884 traf Nachtigal mit einer Delegation in Duala ein und unterzeichnete mit den Führern der Duálá und Ngand’a Kwa “Schutzverträge”. Am 14. Juli wurde die deutsche Flagge gehisst und die “Schutzherrschaft” über das Gebiet erklärt. Fünf Tage später traf der britische Konsul Hewett in Duala ein, der den gleichen Plan verfolgte – die Deutschen waren ihm zuvorgekommen. Es folgte nun in mehreren Stufen die Festigung der deutschen Vormacht, d.h. die Unterwerfung der Kolonie.

Von Kamerun nach Berlin

Im Sommer 1896 wurde eine Gruppe von etwa hundert Afrikanern aus den deutschen Kolonien nach Berlin gebracht, unter ihnen Quane a Dibobe, der Sohn eines Häuptlings der Duálá, den Missionare auf den Namen Martin Dibobe getauft hatten. Sechs Monate lang stellten er und die anderen Afrikaner im Rahmen einer “Völkerschau” der Berliner Gewerbeausstellung im Treptower Park in dem Nachbau eines afrikanischen Dorfes „afrikanisches Alltagsleben“ dar – oder zumindest das, was sich die Kolonialherren darunter vorstellten. In derartigen Völkerschauen wurden oft Frauen, Männer und Kinder aus aller Welt in als typisch erachteter Landestracht vor Nachbauten von Hütten aus ihrer Heimat präsentiert. Wie in einem Art Menschenzoo waren sie „Ausstellungsstücke”, lebende Exponate, und wurden entsprechend unmenschlich behandelt. An der Berliner Charité waren besonders die Rassekundler an den Afrikanern der Völkerschau im Treptower Park interessiert. Sie führten Experimente und Messungen an den Männern durch. Dibobe weigerte sich zunächst, wurde dann jedoch verpflichtet, an den Untersuchungen teilzunehmen.

Ausbildung und Karriere

Nach Ende der Ausstellung blieb Dibobe in Berlin, nahm eine Schlosserlehre auf und arbeitete u.a. bei Siemens. 1900 verlobte er sich mit der Tochter seines Vermieters. 1902 heirateten die beiden – in der damaligen Zeit keine Selbstverständlichkeit. Der Ehe voraus ging ein Irrweg durch die deutschen Verwaltungsinstanzen, vom Standesamt über das Kolonialamt bis zum Auswärtigen Amt. Alle Stellen verweigerten dem Paar die Genehmigung zur Eheschließung. Zum Schluss schaltete sich die Basler Mission in Kamerun ein. Mit der Beglaubigung seiner Identität durch den Pastor, der Dibobe als Kind getauft hatte, war der Weg zur Eheschließung endlich frei. Im selben Jahr trat der Frischvermählte eine Stelle bei der Berliner Hochbahn an. Er wurde zunächst Zugabfertiger, zuletzt Zugführer der U1, der ersten U-Bahn im Kaiserreich, und eine Art lokale Berühmtheit.

Martin Dibobe 1902 als Zugführer

Martin Dibobe, 1902

Dibobe und die Politik

In Berlin wurde Dibobe politisch aktiv. Er sympathisierte mit den Sozialdemokraten und setzte sich für die Gleichberechtigung von Afrikanern in Deutschland ein. 1907 besuchte er seine Heimat, half beim Bau einer Bahntrasse im Norden Kameruns und berichtete seinen Landsleuten von Sozialismus und Selbstbestimmung. Im Sommer 1919 reichte Dibobe gemeinsam mit siebzehn anderen aus den deutschen Kolonien stammenden in Deutschland lebenden Afrikanern eine Petition bei Reichskanzler Friedrich Ebert, der Nationalversammlung und dem Reichskolonialamt ein. Darin forderten die Unterzeichner den Verbleib der Kolonien unter deutscher Herrschaft, aber zugleich die Selbständigkeit und Gleichberechtigung der Afrikaner, sowie das Ende von Prügelstrafen, Zwangsarbeit und Misshandlungen. Die Petenten wollten außerdem gerechte Löhne, Schulpflicht und das Recht zum Studium sowie die Zulassung der Ehe zwischen Eingeborenen und Weißen erreichen. Kurzum: Es ging ihnen um gleiche Rechte für Deutsche und Afrikaner in Deutschland und in Übersee. Auch sollte es dem Papier zufolge einen ständigen Vertreter der Afrikaner im deutschen Parlament geben; als Repräsentant im Reichstag wurde auch gleich Martin Dibobe vorgeschlagen. Doch der Protest lief ins Leere, die Petenten erhielten noch nicht einmal eine Antwort. Nach dem Frieden von Versailles verlor Deutschland die Kolonien an Frankreich und Großbritannien, die 32 Forderungen der Dibobe-Petition wurden nicht erfüllt.

1919 verlor Dibobe seine Anstellung bei der U-Bahn. Die Teilnahme an einer Arbeiterdemonstration hat ihn womöglich die Stellung gekostet. Als er 1922 mit seiner Familie nach Afrika zurückkehren wollte, verhinderte die inzwischen an Frankreich übergegangene Kolonialverwaltung seine Einreise. Man fürchtete, er würde einen pro-deutschen Aufstand anzetteln. Dibobe reiste daraufhin nach Liberia. Hier verliert sich seine Spur. Über sein weiteres Schicksal ist nichts bekannt.

Seit Oktober 2016 erinnert eine Gedenktafel am Haus in der Kuglerstraße 44 in Berlin-Prenzlauer Berg an Martin Dibobe, der hier 1918 gewohnt hat. Im Treppenhaus-Rondell des U-Bahnhofs “Hallesches Tor” in Berlin ist ein Foto von Martin Dibobe zusammen mit anderen historischen Fotos zu sehen.

Illustrationen aus Wikimedia:

https://upload.wikimedia.org/wikipedia/de/9/9a/Martin_Dibobe_Zugführer_1902.jpg

https://de.wikipedia.org/wiki/Datei:Berliner_Gedenktafel_Kuglerstr_44_(Prenz)_Martin_Dibobe.jpg

 

Jens Spahn oder: Die Unfähigkeit, Fehler ehrlich einzugestehen

Dass im deutschen Corona-Herbst 2020 verhängnisvolle Fehlentscheidungen getroffen wurden, haben inzwischen einige Politiker offen eingeräumt. Nicht alle beherzigen aber die Grundregel, dass solche Eingeständnisse nur dann glaubwürdig sind, wenn sie die falschen Entscheidungen auch ehrlich und ungeschönt benennen. Wer dazu nicht fähig ist und in der Retrospektive die Umstände lieber schönt oder gar anderen einen Teil der Schuld zuschiebt, sollte besser schweigen.

Si tacuisses…

Nicht geschwiegen hat nun aber schon zum zweiten Mal Jens Spahn. Der Bundesgesundheitsminister hatte zunächst am 24. Januar 2021 in einem Interview der „Bild am Sonntag“ erklärt, dass es wichtig sei über „Fehler und Versäumnisse reden“ zu können – allerdings nur mit Einschränkungen, nämlich „ohne dass es unerbittlich wird. Ohne dass es nur noch darum geht, Schuld auf andere abzuladen.“ Sein Eingeständnis formulierte er dann aber in der Wir-Form und lud so verbal einfach einen Teil seiner Schuld bei uns allen ab:

„Wir hatten alle zusammen das trügerische Gefühl, dass wir das Virus gut im Griff hätten. Die Wucht, mit der Corona zurückkommen könnte, ahnten wir, wollten es aber in großer Mehrheit so nicht wahrhaben. […] Wir haben dem Virus zu viel Raum gelassen. Wir hätten schon im Oktober bei geringeren Infektionen härtere Maßnahmen ergreifen müssen.“[1]

Dass aber gar nicht alle zusammen als großes „Wir“ im Oktober 2020 in das Lockdown-Light-Horn gestoßen hatten, verschwieg Spahn.

Spahns Doppelfehler

Diese Woche sprach Spahn in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung nochmals über die Fehler im Herbst. Allerdings ging er geschickter vor. Eingangs verwendete er erneut das gesamtgesellschaftliche Schuldverschiebungs-„Wir“. Sodann überdramatisierte er die Situation und drehte noch ein wenig an der Ereignis-Chronologie zu seinen Gunsten herum:

„Wir alle haben doch gehofft, dass die zweite Welle an uns vorbeigeht. Das ist menschlich. Hätte man früher auf die zweite Welle reagieren müssen? Wahrscheinlich ja. […] In der Rückschau sagt sich das immer leichter. Aus der Perspektive von damals muss man ja gleichzeitig fragen: Um welchen Preis? Welche Folgen hätte ein früherer Lockdown in anderen gesellschaftlichen Bereichen gehabt? Wer hätte akzeptiert, wenn wir im September, bei niedrigen Infektionszahlen, harte Einschnitte gefordert hätten?“[2]

Trickreich, wer möchte Spahns rhetorischen Fragen schon widersprechen? Denn stimmt es nicht, dass im September 2020 kaum jemand einen harten Shutdown akzeptiert hätte? Die Wahrheit war nur, dass die Bundesregierung und die Länder es während der langsam wieder ansteigenden Inzidenzen im September bei bloßen Appellen beließen, anstatt wenigstens mit einem Teil-Lockdown gegen die schon absehbare zweite Welle gegenzusteuern. Maßnahmen begrenzter Kontakteinschränkungen hätten zwar keine Begeisterungsstürme ausgelöst, wären bei einem Gutteil der Bevölkerung aber durchaus auf Verständnis gestoßen.

Das wochenlange Zuschauen am Beginn der zweiten Corona-Welle war also der erste politische Fehler im Herbst, den Spahn hier verschweigt.[3]

Erst Ende Oktober kam es dann zum Bund-Länder-Beschluss des „Lockdown Light“. Diese Entscheidung war keineswegs unumstritten – mahnende Stimmen zweifelten an der Wirksamkeit derart begrenzter Einschränkungen der Kontakte. Aber doch gaben einige Experten der gewählten Light-Strategie eine Chance, als „Wellenbrecher“ wirken zu können.

Was nicht nur Spahn gerne verschweigt: Der schlimmste Fehler der politisch Verantwortlichen 2020

Den zweiten dicken Fehler machte die Bund-Länder-Runde am 25. November: Trotz mittlerweile erwiesener Wirkungslosigkeit wurde der Lockdown Light lediglich verlängert. Experten rieten Ende November überwiegend zur Verschärfung.[4] Wäre man diesem Rat gefolgt, hätte das die Dezemberwelle glimpflicher abgefangen und Zehntausenden Menschen das Leben gerettet. Denn erst im Laufe des Dezembers stieg die tägliche Zahl der Corona-Toten unerbittlich von unter 300 bis auf fast 1000 an. Bei einem deutschlandweit so stark grassierenden Corona-Virus mit Inzidenzwerten von zeitweise über 200 war es eben einfach nicht mehr möglich, die Risikogruppe der hilfsbedürftigen alten Menschen, die auf die Unterstützung durch andere im Alltag angewiesen sind und so ihre Außenkontakte nicht vollständig reduzieren können, noch ausreichend zu schützen.

Indem Spahn aber in dem SZ-Interview die Perspektive auf den Anfang der zweiten Welle verschob, konnte er den schwersten politischen Irrtum, den die Bundesregierung zusammen mit den Ländern zu verantworten hat, einfach verschweigen.

Die Unfähigkeit, aus den Fehlern des Herbstes 2020 zu lernen

Sicherlich ist Jens Spahn kein Einzelfall, wenn es um selbstgerechte Analysen und halbherzige oder halbwahre Fehlereingeständnisse geht – schlimmer noch trieb es bekanntlich im Dezember und Januar der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer mit seinen Fremdschuldzuweisungen für eigenes Versagen.[5] Jedoch sind solche Statements der Unbelehrbarkeit in der jetzigen Situation ein besonderes Ärgernis. Denn nur wenn man einen schonungslosen, wahrheitsgemäß Blick auf die eigenen Fehler zulässt, kann man aus ihnen etwas lernen. Halbwahrheiten verführen hingegen nur zu neuen Fehlschlüssen.

Gerade in der jetzigen Pandemiesituation wäre es dringend nötig, dass die Verantwortlichen in der Politik die richtigen Lehren aus den Versäumnissen des Jahres 2020 ziehen. Wir sollten angesichts einer sich aufbauenden neuen, von Corona-Mutationen beschleunigt angetriebenen Welle nun keineswegs uns mit einer begrenzten Eindämmung der Neuinfektionszahlen zufrieden geben. Die Situation ähnelt durchaus wieder der vom Frühherbst: Wir wissen an sich, dass eine Gefährdung bevorsteht, debattieren aber voreilig über neue Lockerungen statt über eine nachhaltige Absenkung der Infektionszahlen.

Doch nicht nur eine Analyse der Fehlentscheidungen während der im letzten Jahr angewandten Pandemie-Eindämmungspolitik ist jetzt gefordert, sondern auch ein Umdenken in der Bekämpfung von COVID-19. Wer den Pandemieverlauf in Deutschland im vergangenen Jahr kritisch Revue passieren lässt, wird zu dem Schluss kommen, dass die gewählte Strategie einer „Eindämmung des Virus“ nicht als Erfolg bezeichnet werden kann. Zwar wurde der Kollaps des Gesundheitssystems in Deutschland am Jahresende gerade noch vermieden. Aber die hohen Todeszahlen belegen, dass der Schutz der Risikogruppen, der schon in der ersten Welle die Achillesferse war, in der zweite Welle misslungen ist. Außerdem haben lange Teil-Lockdown-Zeiten das Land wirtschaftlich, finanziell und mental stark belastet, wobei die Lasten sehr ungleich verteilt waren.

Führende Wissenschaftler fordern deshalb schon seit November einen Strategiewechsel – weg von der bloßen Eindämmung, die in der Praxis zu Jojo-Effekten geführt hat, hin zu einer Strategie einer weitgehenden Eliminierung des Virus, bekannt geworden unter dem Twitter-Hashtag #NoCovid.[6]

Anmerkungen:

[1] https://www.bild.de/bild-plus/politik/2021/politik/spahn-unter-druck-wir-haben-dem-virus-zu-viel-raum-gelassen-75032808,view=conversionToLogin.bild.html;
ausführlicher dazu der letzte Corona-Beitrag in diesem Blog.

[2] “Hätte man früher auf die zweite Welle reagieren müssen? Wahrscheinlich ja”, in: SZ 14.2.2021, https://www.sueddeutsche.de/politik/jens-spahn-corona-grenzkontrollen-impfen-interview-1.5205856.

[3] Vgl. dazu den ersten Corona-Beitrag in diesem Blog.

[4] Vgl. den zweiten Corona-Beitrag in diesem Blog.

[5] Vgl. „Kretschmer: ‚Haben dieses Virus unterschätzt‘“, ZDFheute 2.12.2020, https://www.zdf.de/nachrichten/politik/corona-sachsen-kretschmer-100.html; „Ministerpräsident Kretschmer räumt Fehler in Corona-Politik ein“, RND/dpa 8.1.2021, https://www.rnd.de/politik/corona-in-sachsen-michael-kretschmer-raumt-fehler-in-umgang-mit-pandemie-ein-VSFYEBNZT755FV3G3C32AY52YA.html.

[6] Vgl. dazu den jüngsten europaweiten Aufruf von Wissenschaftlern, der am 15.2.2021 auch in der Süddeutschen Zeitung veröffentlicht wurde: „Wie wir ohne Covid-19 leben können“, https://www.sueddeutsche.de/gesundheit/no-covid-coronavirus-strategie-impfung-zonen-1.5206829?utm_source=Twitter&utm_medium=twitterbot&utm_campaign=1.5206829.

Der “Mohr” – zur Problematik eines historischen Begriffs

Andere Zeiten, andere sprachliche Sitten – das gilt auch für Black History. Historische Begriffe wie „Kammermohr“ und „Hofmohr“ sind zunächst einmal sprachliche Kinder ihrer Zeit. Im 18. Jahrhundert sind sie in etwa so gebräuchlich wie „Beutetürke“ oder „Hoftürke“ für Gefangengenommene aus den Türkenkriegen. “Hoftürken” trugen ähnlich wie “Hofmohren” in europäischen Fürstenhäusern als Diener zum damals modischen exotischen Sujet bei. Keine dieser Bezeichnungen ist wertneutral.

Wenn nun hier in Beiträgen zur Black History afrikanischstämmige Kammerdiener oder Hofbeschäftigte in einer bestimmten Zeit behandelt werden, kommt man schlecht drum herum, die damals gängigen Bezeichnungen zu verwenden. Im Sinne der kritischen Betrachtung des Untersuchungsgegenstandes erscheint es aber zwingend notwendig, sich die Herkunft dieser Begriffe bewusst zu machen. Dazu deshalb einige Bemerkungen in einem Begriffsexkurs zu der Black-History-Artikelserie dieses Blogs.

Herkunft des Begriffs

Der Begriff „Mohr“ leitet sich etymologisch vom griechischen „moros“ und dem lateinischen „maurus“ ab, aus dem im Althochdeutschen schließlich „mor“ und später „Mohr“ entstanden ist. Das lateinische „maurus“ steht zunächst für die Herkunft aus Mauretanien, später für „schwarz“, „dunkel“ und „afrikanisch“, das griechische „moros“ aus dem sich das lateinische “maurus” ableitet ebenfalls zunächst auf Mauretanien beziehend, später u.a. für „töricht“ und „dumm“. Der Begriff „Mohr“ ist daher vom Ursprung her eine Bezeichnung für eine aus einem bestimmten geografischen Zusammenhang stammende Gruppe, später jedoch zunehmend sowohl eine Beschreibung für dunkelhäutige Menschen, im weiteren Verlauf die für eine imaginierte Rasse. Eine Menschengruppe wird auf ihre Hautfarbe reduziert, bewertet und herabgewürdigt. Deshalb steht der Begriff im zeitlichen Zusammenhang des 18. Jahrhunderts nicht einfach für einen Schwarzen Diener, sondern für einen unterwürfigen, versklavten afrikanischen Hoflakaien.

Bedeutung im historischen Kontext

Betrachten wir nochmals näher die in der Blogartikelserie bisher beschriebenen Lakaien afrikanischer Herkunft. Hier ergibt sich ein durchaus ambivalentes Bild: Einerseits wurden sie durch die Bezeichnung „Kammer-“ oder „Hofmohr“ als unterwürfige, versklavte, afrikanische Diener gekennzeichnet. Der Subtext, der sich aus der aus dem Griechischen stammenden Bedeutung ableitet, deutet auf einen dummen, törichten Diener hin. Das beisst sich andererseits mit der ausgesprochen aufwendigen Ausbildung, die ihnen zuteil wurde. Schließlich sollten Hofmohren doch gerade auch durch ihre Bildung bestechen.

Hinzu kam die Aneignung des afrikanischen Dieners durch die Bestimmung seiner Kleidung, die Ausstaffierung mit einer exotisch-bunten Uniform. Dies symbolisierte eine Inbesitznahme der Person und verdeutlichte ihre Verfügbarkeit. Optisch hatte der “Hofmohr” dadurch zwar innerhalb der Dienerschaft eine hervorgehobene Sonderstellung, war aber zugleich auch abgesondert – Abgrenzung durch Hervorhebung. Die Wahl der Taufnahmen, zumeist in Anlehnung an den Namen des Dienstherren, stellt vor diesem Hintergrund eine weitere Form der Inbesitznahme der Person dar.

Angelo Soliman um 1750

Der Fall Soliman

Nehmen wir z.B. den im vorletzten Beitrag unserer Artikelserie thematisierten Fall des Angelo Soliman. Der zu seinen Lebzeiten aufgrund seiner Haltung und Bildung hoch angesehene und gerühmte Hofmohr Soliman war nach seinem Tode auf Geheiß des Kaisers präpariert und im Kaiserlichen Naturalienkabinett in Wien wie eine Jagdtrophäe ausgestopft worden. Man hatte ihn entkleidet, mit Ketten und Federn ausstaffiert, als „Wilden“ verkleidet und zwischen Tierpräparaten präsentiert.

Dies muss als der postume Versuch der erneuten Inbesitznahme der Person gewertet werden. Dem ehemaligen Sklave Soliman war es zu Lebzeiten gelungen, sich durch Bildung und Leistung aus seiner Position als Kammerdiener herauszuarbeiten. Als Prinzerzieher hatte er es zu einer hochangesehenen Persönlichkeit in Wien gebracht, pflegte mit hochadeligen und gekrönten Häuptern Europas Umgang und war zu guter Letzt von der Freimaurerloge „Zur wahren Eintracht“ in Wien aufgenommen worden.

Was anders als eine Negierung der Leistung zur Lebenszeit war es, wie mit dem Leichnam dieses angesehenen Höflings umgegangen wurde? Was anders als ein postumes Ausstoßen aus der höheren Gesellschaft Wiens war es, Soliman nach seinem Tod in einen „Wilden“ zu verwandeln und neben Tierpräparaten auszustellen? Auf die Emanzipation des lebenden folgte die Inbesitznahme des verstorbenen Soliman.

Aktuelle Auseinandersetzung

Während das „N“-Wort rassistisch ist und dies bereits seit Jahrzehnten auch in der breiten Gesellschaft erkannt wird, ist die Auseinandersetzung um den Begriff „Mohr“ zwar bereits seit Längerem im Gange, hat jedoch noch keinen Abschluss gefunden. Zu sehr wird mit zahlreichen Produkten, die mit dem Namen oder Konterfei eines „Mohren“ werben, etwas Positives verbunden. Zwar wird der Schoko- oder Schaumkuss schon längst nicht mehr „Negerkuss“ oder „Mohrenkopf“ genannt, doch fanden und finden sich noch zahlreiche “Mohren”-Abbildungen auf Produktverpackungen – so etwa der „Sarotti-Mohr“ (inzwischen der “Sarotti-Magier”) oder die Logos der Kaffeemarken Machwitz und Julius Meinl.

Dass inzwischen ein Umdenken stattfindet, zeigen Fälle von Umbenennungen. So wurde aus dem Augsburger Hotel „Drei Mohren“ das „Maximilian’s“. Die Berliner Mohrenstraße heißt seit August 2020 Anton-Wilhelm-Amo-Straße. Sicher ist das erst ein Anfang, denn die Auseinandersetzungen an anderer Stelle sind noch in vollem Gange.

 

Illustration aus Wikimedia: 

Angelo Soliman: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Angelo_Soliman.jpg?fbclid=IwAR1qrIKZnrIUb5dxiCs9gjtOXHHHMh3-GRoD9965e8UQuNLQuESIKM44icw

“Hofmohr” und preußischer Militär – zwei afrodeutsche Karrieren

August und Gustav Sabac el Cher

Zwei spannende, bis heute wenig bekannte afrodeutsche Biografien sind die von August Sabac el Cher, dem Leibdiener des preußischen Prinzen Albrecht und die von Augusts Sohn Gustav Sabac el Cher, einem afrodeutschen Militärmusiker der preußischen Armee.

Von Kairo nach Berlin

Beginnen wir mit August Sabac el Cher. Er stammte aus Ägypten, aus dem Gebiet des heutigen Sudan. Sein Vater, ein sudanesischer Scheich, war bei einem Aufstand gegen die Osmanen ums Leben gekommen. Die Mutter hatte daraufhin Suizid begangen. Der verwaiste Sohn wurde nach der Niederschlagung des Aufstandes verschleppt. Muhammad Ali Pascha, der Gouverneur der osmanischen Provinz Ägypten, machte ihn Prinz Albrecht von Preußen bei dessen Besuch in Ägypten im März 1843 zum Geschenk. Das Verschenken von „Mohrenkindern“* als Diener war zur damaligen Zeit durchaus üblich. Ebenso war es gang und gäbe, dass die neuen Herren ihnen einen neuen Namen gaben. Prinz Albrecht wählte für den wohl erst sieben Jahre alten Jungen die einzige arabische Wendung, die ihm bekannt war: Sabac el Cher, was „Guten Morgen“ bedeutet.

Mit Prinz Albrecht gelangte der Junge nach Berlin. Er wurde beim Gesinde des Prinz-Albrecht-Palais untergebracht, wuchs im unmittelbaren Umfeld des preußischen Hofes auf, erhielt Unterricht in deutscher Sprache und christlicher Religion. Ab 1851 war er Kammerdiener und wurde als Lakai einem Offizianten unterstellt. Bei seiner Taufe im April 1852 erhielt er zusätzlich die Vornamen August Albrecht. Im weiteren Verlauf stieg er zum Leibdiener und schließlich zum Silberverwalter von Prinz Albrecht auf, reiste in dessen Gefolge durch Europa und begleitete ihn zu Militäreinsätzen, so u.a. bei einem Einsatz zur Unterstützung der russischen Armee im Kaukasus. Von der russischen Zarin erhielt er eine goldene Taschenuhr, die sich bis heute im Familienbesitz befindet.

1864 nahm August Sabac el Cher im Dienste der preußischen Armee am Deutsch-Dänischen Krieg teil und 1866 an der Schlacht von Königgrätz. Ein Jahr später heiratete er die Tochter eines wohlhabenden Berliner Textilkaufmanns. Sie bezogen eine Wohnung im Prinz-Albrecht-Paials, Wilhelmstraße 102 in Berlin – dem Stadtschloss, in dem siebzig Jahre später das Reichssicherheitshauptamt untergebracht werden sollte.1868 wurde der Sohn Gustav Sabac el Cher geboren. 1870 nahm August auch am Deutsch-Französischen Krieg teil, sechs Jahre später schied er dann aus dem Dienst bei Hofe aus. 1882 erhielt August Sabac el Cher die Naturalisationsurkunde und galt damit rechtlich als preußischer Bürger.

Gustav der Militärmusiker

Sein Sohn Gustav Sabac el Cher machte Karriere als Militärmusiker und Rundfunkdirigent. Mit 17 Jahren trat er in die Kapelle des Brandenburgischen Füsilier-Regiments Nr. 35 und damit in die preußische Armee ein. 1895 wurde er Dirigent beim Grenadier-Regiment „König Friedrich III.“ Nr. 1 in Königsberg, wo er zu einer stadtbekannten Persönlichkeit wurde. 1901 heiratete er die Tochter eines Lehrers. Aus der Ehe gingen die beiden Söhne Horst und Herbert hervor. Trotz seiner Militärmusikerlaufbahn war Gustav Sabac el Cher in mindestens einem Fall direkt mit Rassismus konfrontiert. Dagegen klagte er aber vor Gericht wegen Beleidigung und gewann den Prozess 1908.

Die „Deutsche Zeitung“ hatte im Oktober 1907 in einem Leitartikel die Frage erörtert, ob es angebracht sei, dass in der deutschen Armee Schwarze als Vorgesetzte dienten und diese Frage auch gleich mit einem entschiedenen „Nein“ beantwortet. In einer ebenfalls abgedruckten Stellungnahme des Redakteurs Erich Peterson wurde Sabac el Cher direkt angegriffen, als „Nigger“ bezeichnet, der mit seiner „eigentümlichen Art der Tanzbewegungen“ die deutsche Musik verhunze u.a.m.

Kronprinz von Massow, Kommandeur des Grenadierregiments, sprang Sabac el Cher zur Seite und erwirkte den Abdruck seiner Stellungnahme in der Zeitung. In ihr ergriff er für seinen Musiker Partei. Zugleich ging Sabac el Cher auf dem Weg der Privatklage gegen den Redakteur vor. Redakteur Peterson ruderte zwar in dem Gerichtsverfahren zurück und behauptete, er habe Sabac el Cher keineswegs persönlich angreifen oder beleidigen wollen. Das Urteil wurde 1908 aber zugunsten von Sabac el Cher gesprochen und Redakteur Peterson so wegen Beleidigung zu einer Geldstrafe verurteilt.

Ein Jahr nach dieser Affäre, im Jahre 1909, quittierte Gustav Sabac el Cher den Dienst in der Armee und zog mit seiner Frau und den beiden Söhnen zurück nach Berlin. Er arbeitete fortan als Kapellmeister in verschiedenen Städten. Zur Zeit der Weimarer Republik war er als Dirigent bei einem Rundfunk-Orchester tätig.

Das Ende von Weimar und die Kameraden vom „Stahlhelm“

Ende der 1920er Jahre eröffnete Gustav Sabac el Cher in Königs-Wusterhausen eine gutgehende Gartenwirtschaft. Hier musizierte er häufig gemeinsam mit seinen Söhnen Horst und Herbert. Beide Söhne waren in die Fußstapfen des Vaters getreten, Horst als Pianist und Herbert als Violinist. Gustav war überzeugter Preuße und Offizier, identifizierte sich mit dem wilhelminischen Wertekanon. Regelmäßig waren seine Freunde und Kameraden vom „Stahlhelm“, dem „Bund der Frontsoldaten“ zu Gast. Längst schon hatte sich im Verband der Rassismus breit gemacht. Ob Gustav dies ausgeblendet hat oder noch immer der Korpsgeist seiner ehemaligen Kameraden überwog, ist nicht bekannt. Aber es scheint mindestens bemerkenswert.

Nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten blieben die Gäste aus. Die Geschäfte liefen schlecht, die Gaststätte war nicht mehr zu halten. Ein daraufhin von Gustavs Familie in Berlin eröffnetes Kaffeehaus musste auf Druck der Behörden geschlossen werden. 1934 verstarb Gustav Sabac el Cher. Der im Exil lebende Kaiser Wilhelm II. übersandte ein Beileidstelegramm für den ehemaligen Dirigenten seines Königsberger Regiments.

Gustavs Frau starb ein Jahr später. Von Horst Sabac el Cher ist ein Foto überliefert, das ihn 1935 in der Uniform des Stahlhelms zeigt. Im Zweiten Weltkrieg diente er als Sanitäter bei der Wehrmacht und kam 1943 an der Ostfront um. Sein Bruder Herbert überlebte den Krieg. Der erste Sohn von Herbert Sabac el Cher, unehelich geboren, besuchte eine “Nationalpolitische Erziehungsanstalt”, kurz: “Napola“, eine NS-Eliteschule.

Anmerkung: 

*Die Begriffe “Mohrenkinder”, “Hof-” und “Kammermohr” sind Kinder ihrer Zeit, Fremdzuschreibungen mit negativer Konnotation. Wir widmen ihr in einem späteren Beitrag im Rahmen des BHM2021 einen Exkurs.

Illustrationen aus Wikimedia: 

August Sabac el Cher: https://upload.wikimedia.org/…/August_Sabac_el_Cher…

Gustav Sabac el Cher: https://upload.wikimedia.org/…/e2/Gustav_Sabac_el_Cher.jpg

“Kammer-” oder “Hofmohr”

Adlige und kirchliche Würdenträger, die im 18. und auch noch bis Mitte des 19. Jahrhundert etwas auf sich hielten, zählten zu ihrem Gefolge nicht selten einen afrikanischen Diener. Der „Kammer-” oder „Hofmohr“* war ein exotisches Prestigeobjekt, das nach außen Luxus, Wohlstand, Exklusivität und Weltläufigkeit illustrieren sollte. Der Kammerdiener symbolisierte als exotischer Lakai die weltweiten Fernhandels- und Machtbeziehungen seines Eigentümers. Üblicherweise als Sklave nach Europa verschleppt oder Fürsten von orientalischen Herrschern zum Geschenk gemacht, wurden afrikanische Kinder an europäischen Höfen zu Dienern ausgebildet. Sie waren weiterhin unfrei und an ihren Herren gebunden, erhielten jedoch im Gegenzug üblicherweise eine umfangreiche Bildung und erlernten oft zahlreiche Fremdsprachen. So stiegen die als Sklaven verschleppten, an Fürstenhöfen bestens ausgebildeten afrikanischen Diener nicht selten in höchste Vertrauenspositionen auf.

Kaufmann Heinrich Carl von Schimmelmann (links), König Christian VI. von Dänemark (rechts)

Bekannte Kammermohren waren Angelo Soliman, Ignatius Fortuna oder auch Abraham Petrowitsch Hannibal.

Angelo Soliman

Der aus Nigeria stammende Soliman war nach der Niederlage seines Stammes von den siegreichen afrikanischen Gegnern an europäische Sklavenhändler verkauft und über Umwege auf den alten Kontinent verschleppt worden. Seine Karriere als Kammerdiener begann er 1734 bei dem österreichischen Fürsten Johann Georg Christian von Lobkowitz. 1773 brachte er es schließlich zum Prinzerzieher bei Fürst Franz Josef von Liechtenstein. Soliman war als der „hochfürstliche Mohr“ und „Cammerdiener“ des Fürsten von Liechtenstein der wohl berühmteste Hofmohr Wiens und begleitete seinen Fürsten zu Audienzen und auf Feldzügen. Wie die meisten seiner afrikanischen Kollegen hatte er eine umfassende Bildung erhalten und sprach neben seiner Muttersprache auch Deutsch, Italienisch, Französisch, Englisch, Latein und Tschechisch. Er war durch sein angenehmes Auftreten bekannt und führte fast freundschaftliche Beziehungen zum Sohn Kaiser Josephs II. Dies hinderte diesen jedoch nicht dran, Soliman nach seinem Tod auf Wunsch des Kaisers präpariert und ausgestopft** im Naturalienkabinett zur Schau zu stellen.

Ignatius Fortuna

Ignatius Fortuna wurde vermutlich in Surinam geboren und war als Kind von einem Kaufmann aus Essen in das dortige Reichsstift gebracht worden. Dort wurde er christlich erzogen, getauft und an den geistlichen Landesherrn übergeben. Über Umwege  landete er schließlich bei der Essener Fürstäbtissin Franziska Christine von Pfalz-Sulzbach, wo er in eine Vertrauensstellung aufstieg (vgl. dazu die Illustration zu Beginn des vorangegangenen Blogbeitrags).

Abraham Petrowitsch Hannibal

Wie bei Ignatius Fortuna ist auch die Herkunft von Abraham Petrowitsch Hannibal nicht eindeutig belegt. Die Quellen nennen abweichend Eritrea und Kamerun als Herkunftsort. Anfang des 18. Jahrhunderts war er als Junge vom russischen Gesandten Graf Tolstoi  in Konstantinopel gekauft, später in den Dienst des russischen Zaren Peter I. getreten und begleitete diesen auf allen seinen Feldzügen. Auch Abraham wurde eine umfängliche Ausbildung ermöglicht. Mit zweiundzwanzig Jahren schickte man ihn nach Paris. Dort trat er in den Dienst der französischen Armee ein und wurde im Feldzug gegen Spanien im Jahre 1720 zum Leutnant befördert. Ferner besuchte er die Pariser Ingenieursschule und verließ sie im Rang eines Kapitäns. Schließlich kehrte er nach Russland zurück und diente als Leutnant in einem von Zar Peter I. befehligten Artillerieregiment. Er starb schließlich als Großgrundbesitzer in Russland.

Mensch und Objekt – die ambivalente Stellung der “Hofmohren”

Die nach Europa Verschleppten wie Angelo Soliman und Ignatius Fortuna wurden christlich getauft und erhielten von ihren Herren neue Familien- und Rufnamen. Nur diese sind üblicherweise überliefert. Ob die Betroffenen, die oft schon im Kindesalter verschleppt worden sind, um ihre ursprünglichen Namen wussten, ist nicht bekannt. Auch im Einzelfall lassen sich die Namen aus der afrikanischen Heimat nur schwer ermitteln. Sinn und Zweck mag mit Sicherheit gewesen sein, den afrikanischen Diener nach Gutdünken nicht nur mit prächtig-bunter Uniform auszustaffieren, um dem Wunsch nach Exotik zu entsprechen, sondern ihn sich über den neuen Namen zusätzlich zu Eigen zu machen. Für die Betroffenen bedeutete dies, dass die Brücken in die alte Heimat, und sei es auch nur die Verbindung über den Namen, abgebrochen wurde. Dieser Bruch wirkt bis heute nach. So zeigt sich in der Befassung mit dem Thema die Schwierigkeit, nicht nur den ursprünglichen Namen, sondern in manchen Fällen auch die tatsächliche Herkunftsregion des Einzelnen zu ermitteln.

Der Fall von Angelo Soliman steht stellvertretend für die ambivalente Haltung gegenüber den “Hofmohren”. Soliman war hoch gebildet, allgemein geachtet, gern gesehen im Umgang mit den gekrönten Häuptern und Fürsten Europas – doch hinderte dies den Kaiser in Wien nicht daran, ihn nach seinem Tode präparieren und ausstopfen zu lassen, um ihn im kaiserlichen Naturalienkabinett, halbnackt, mit Federn und Muschelketten geschmückt zwischen Tierpräparaten auszustellen. Auf der einen Seite war Soliman der kultivierte, gebildete Diener, der sich in den höchsten gesellschaftlichen Kreisen bewegte. Auf der anderen Seite wurde er nach seinem Tod präpariert und ausgestopft wie eine Jagdtrophäe in einer seiner Person nicht entsprechenden Verkleidung als unzivilisierter Wilder – die Rückverwandlung eines Menschen zum Objekt, als das er nach Europa verschleppt worden war. Trotz der Proteste seiner Angehörigen, die ein christliches Begräbnis für Soliman forderten, wurde sein präparierter Leichnam weiter im Naturalienkabinett belassen.

Anmerkung:

*Die Begriffe “Hof-” und “Kammermohr” sind Kinder ihrer Zeit, Fremdzuschreibungen mit negativer Konnotation. Wir widmen ihr in einem späteren Beitrag im Rahmen des BHM2021 einen Exkurs.

**Der schockierende Begriff “ausgestopft” wurde bewusst verwendet, da er der Behandlung des Leichnams nach Art einer Tierpräparation entspricht und so den menschenunwürdigen Umgang sprachlich verdeutlicht.

Illustrationen aus Wikimedia:

https://de.wikipedia.org/wiki/Diener#/media/Datei:Heinrich_Carl_Schimmelmann_1773.jpg

https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/2/2b/Christian_VI_med_tjener.jpg

Afrodeutsche Geschichte – verdrängt und ausgeblendet

Die Geschichte Schwarzer Menschen in Deutschland und Europa ist zum Gutteil noch immer geprägt von der Kolonialgeschichte. Dabei hat die Perspektive in Deutschland eine Besonderheit nämlich die vergleichsweise kurze Kolonialgeschichte. Damit einher geht fast zwangsläufig die Wahrnehmung, dass Kolonialgeschichte und in diesem Zusammenhang nach Deutschland migrierte Afrikaner allein zahlenmäßig gar nicht so relevant gewesen seien und ihre Präsenz keinen nachhaltigen Einfluss auf die deutsche Gesellschaft gehabt haben könne. Eine kleine, kaum sichtbare Minderheit also.

“Kammermohr” Ignatius Fortuna mit Fürstin Franziska Christine von Pfalz-Sulzbach

Seit Jahrhunderten in Deutschland

Tatsächlich lebten Afrikaner und Afrodeutsche aber seit hunderten von Jahren in Deutschland und nicht erst seit Errichtung der deutschen Kolonien in Afrika 1884. Afrikaner gelangten Anfang des 18. Jahrhunderts als „Kammer-„ oder „Hofmohren“*

an die europäischen Fürstenhöfe. Prächtig ausstaffiert und umfassend gebildet dienten Kammermohren Herrschern, kirchlichen Würdenträgern und wohlhabenden Kaufleuten als exotisches Statussymbol. Da wäre Anton Wilhelm Amo (geb. ca. 1703, verst. Nach 1753) aus Ghana. Als Kind versklavt, von der Niederländisch-Westindischen Gesellschaft nach Amsterdam verschleppt und an Herzog Anton Ulrich von Braunschweig und Lüneburg-Wolfenbüttel verschenkt. Amo machte zunächst „Karriere“ als sogenannter „Kammermohr“, erhielt eine umfassende humanistische Ausbildung, studierte in Halle und Wittenberg Philosophie und Rechtswissenschaft, promovierte schließlich 1734 in Wittenberg und lehrte in Wittenberg und Jena.

Aus den Kolonien

Mit der Errichtung deutscher Kolonien kamen jedoch zum ersten Mal AfrikanerInnen in größerer Zahl nach Deutschland. Durch den Ausbau der Kolonialherrschaft entstand ein erhöhter Bedarf an Fachkräften für Verwaltung und Wirtschaft und so gelangten zahlreiche junge AfrikanerInnen zur Ausbildung nach Deutschland, besuchten deutsche

Askari, Deutsch-Ostafrika, beim Übungsschießen, ca. 1914-1918

Schulen, studierten an deutschen Universitäten, oder wurden an Missions- und Kolonialschulen ausgebildet als Handwerker, Facharbeiter oder Missionslehrer zum Einsatz in den deutschen Kolonien. Einige waren als Köche, Stewards oder Heizer der deutschen Schifffahrtslinie tätig, die zwischen Deutschland und den Kolonien verkehrte, arbeiteten als Sprachgehilfen, gelangten als ehemalige Angehörige der deutschen Schutztruppen nach Deutschland oder wurden als afrikanische Hausangestellte von Kaufleuten oder Afrikareisenden mitgebracht.

Völkerschauen

Schon vor Errichtung der deutschen Kolonien gelangten Afrikaner über die bereits bestehenden Handelskontakte nach Deutschland, andere wurden als lebende „Ausstellungsstücke“ im Rahmen der seit 1874 u.a. von Carl Hagenbeck organisierten „Völkerschauen“ präsentiert. So gelangte auch Martin Dibobe nach Deutschland. Der Sohn eines Häuptlings der Duálá war 1896 als einer von hundert Afrikanern aus den deutschen Kolonien nach Europa gebracht worden, um sechs Monate lang im Rahmen einer Völkerschau der Berliner Gewerbeausstellung im Treptower Park in dem Nachbau eines afrikanischen Dorfes „afrikanisches Alltagsleben“ darzustellen, bzw. das, was sich die Deutschen unter afrikanischem Alltagsleben vorstellten. Nach Ende der Ausstellung blieb Dibobe in Deutschland, machte eine Ausbildung und landete zunächst als Zugführer, schließlich als Fahrer bei der Berliner U-Bahn.

Andere kamen nur für einige Jahre nach Deutschland, zur Ausbildung, oder um einige Zeit im Land zu arbeiten. Mdachi bin Scharifu reiste 1913 aus der damaligen Kolonie Deutsch-Ostafrika (heute Tansania) nach Berlin und arbeitete als Sprachlektor am Seminar für Orientalische Sprachen an der Friedrich-Wilhelms-Universität. Er kehrte 1920 nach Ostafrika zurück.

Gustav Sabac el Cher, der Nachfahre eines „Hofmohren“, war in Berlin aufgewachsen, machte in der Kaiserzeit Karriere als Militärmusiker bei der Preußischen Armee und später als Dirigent beim Rundfunk. Seine Söhne dienten im Zweiten Weltkrieg in der Wehrmacht, ein Enkel landete in einer Napola, einem als NS-Kaderschmiede ausgelegten Internat.

Bayume Mohamed Husen, war als ehemaliger afrikanisch-deutscher Askari 1929 nach Deutschland gelangt. Hier gründete er eine Familie, arbeitete als Kellner, Sprachlektor und Schauspieler. Im August 1941 verhaftete ihn die Gestapo wegen des Vorwurfs der „Rassenschande“. Er wurde in das Konzentrationslager Sachsenhausen verbracht, wo er drei Jahre später starb. Insgesamt wird die Zahl der in Konzentrationslagern ermordeten Menschen afrikanischer Herkunft auf 2.000 geschätzt. Nicht einberechnet sind dabei die in den Kriegsgefangenenlagern inhaftierten Black Americans und afrikanischen Soldaten der französischen, belgischen und britischen Truppen.

Gemiedenes Thema

Noch immer wird afrodeutsche Geschichte in der breiten Öffentlichkeit unzureichend wahrgenommen. Sie wird zumeist auf die Kolonialzeit beschränkt, die ihrerseits kaum aufgearbeitet ist. Die Zeit des Nationalsozialismus wird oft komplett ausgeblendet. Afrodeutsches Leben wird aufgrund des insbesondere in dieser Zeit herrschenden und vom NS-Regime gesteuerten, geförderten oder protegierten Rassismus schlichtweg für unmöglich gehalten. Erst allmählich tasten sich Medien und Gesellschaft an die Thematik heran, wie die lokalen Auseinandersetzungen (bzw. der Versuch ihrer Vermeidung) zu Straßennamen mit kolonialer Vergangenheit nur all zu deutlich illustrieren. Allein der Umbenennung der Berliner „Mohrenstraße“ in „Anton-Wilhelm-Amo-Straße“ im August 2020 ging eine jahrelange Auseinandersetzung voraus. Die Änderung des Namens “Mohrenstraße” bei der am Ort befindlichen U-Bahn-Haltestelle hingegen scheiterte.

Anmerkung: 

*Die Begriffe “Hof-” und “Kammermohr” sind Kinder ihrer Zeit, Fremdzuschreibungen mit negativer Konnotation. Wir widmen ihr in einem späteren Beitrag im Rahmen des BHM2021 einen Exkurs.

Quellenangaben zu den llustrationen:

“Kammermohr”: https://de.wikipedia.org/wiki/Kammermohr#/media/Datei:Francisca_Christina_of_the_Palatinate-Sulzbach._Princess-Abbess_of_Essen_and_Thorn.jpg

Askari: https://en.wikipedia.org/wiki/Askari#/media/File:Bundesarchiv_Bild_105-DOA3049,_Deutsch-Ostafrika,_Askari_beim_Übungsschießen.jpg

Gustav Sabac el Cher: https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Datei:Gustav_Sabac_el_Cher.jpg&filetimestamp=20160217161640&

Stolperstein: https://de.wikipedia.org/wiki/Bayume_Mohamed_Husen#/media/Datei:Stolperstein_Brunnenstr_193_(Mitte)_Bayume_Mohamed_Husen.jpg